Corona – das Nichts und die Folgen fotografieren

Plötzlich rücken andere Motive in den Mittelpunkt. Da ist zunächst einmal das Nichts. Viren sind nicht zu sehen. Auf den Strassen ist nichts zu sehen, sogar buchstäblich gibt es nichts zu sehen, weil die Menschen gar nicht draussen sind. Aus Streetfotografie wird Streetsfotografie und das Nichts zu sehen wird zum Motiv.

Aber das ist nur der Anfang.

  • Der Alltag, das Bewußtsein, das Ende – alle Themen und alle Fragen des Menschseins sind plötzlich da. Das Symbol ist die Atemschutzmaske. Sie zeigt auch den Unterschied zwischen Asien und anderen Teilen der Welt. Sie symbolisiert Denken und Sehen.
  • Und dann die Antworten. Die industrielle Gesellschaft kämpft industriell, die nachindustrielle Gesellschaft kämpft individuell.
  • Thema fehlende Öffentlichkeit. Gerade jetzt kann man bemerken, daß das Leben in der Öffentlichkeit fehlt. Nur das digitale Leben, das kontrollierte Leben, wird umgesetzt.
  • Meinungsfreiheit, die mit neuen Gesetzen nach freier Meinung durchsiebt wird und freie Meinung, die unter die neuen Gesetze fällt – neue Medien, die neue Meinungen machen …
  • Leben und Sterben, die Sinnlosigkeit der Existenz,
  • Die Parolen der Rentengegner „Wir werden immer älter“ – außer wir sterben unverhofft früher, die Grenzen von statistischen Rechnungen und die Wirklichkeit.

Das sind einige der neuen Themen, die ich sehe neben den sozialdokumentarischen Klassikern wie Beschränkungen im Alltag, geschlossene Läden, Särge und Leere – eben alles bis zum Ende des Lebens, individuell und sozial.

Wie fotografiert man diese Krise? Das kommt darauf an, was man überhaupt sieht.

Was sehen wir, was sehen andere? Die Asiaten sehen, daß wir keine Masken tragen, wir sehen, daß die Asiaten Masken tragen.

Wir sehen was wir wahrnnehmen und was wir wahrnehmen wollen und können.

David Yalom hat sehr schön zusammengefaßt, wie sich unsere Weltsicht entwickelt hat: „Oft schon wurde festgestellt, daß drei wichtige geistige Umwälzungen die Idee von der zentralen Stellung des Menschen bedroht haben. Als Erster demonstrierte Kopernikus, dass die Erde nicht der Mittelpunkt ist, um den sich alle anderen Himmelskörper drehen. Als Nächster zeigte uns Darwin, dass wir keine zentrale Rolle in der Kette der Evolution spielen, sondern wie alle anderen Geschöpfe aus anderen Lebensformen entstanden sind. Und drittens erklärte uns Freud, daß wir in unserem eigenen Hause nicht die Herren sind – ein Großteil unseres Verhaltens werde von Kräften ausserhalb unseres Bewusstseins beherrscht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Freuds verkannter Mitrevolutionär Arthur Schopenhauer war, der schon lange vor Freuds Geburt postulierte, dass wir von tiefgreifenden biologischen Mächten gesteuert werden und uns dann einbilden, wir hätten unser Schicksal bewusst gewählt.“ (339)

Wie gehen wir mit dieser Krise um?

Sie wirkt weltweit.

„Seit Jahren verlagert die Politik die Probleme in die Zukunft. Das Gebot der Stunde war stets das möglichst komfortable Prokrastinieren der Probleme. Flüchtlingskrise? Erdogan macht den Türsteher. Drohende Rezession? Mehr Geld drucken, bis in den Negativzinsbereich. Daran hat sich auch in der Corona-Krise nichts geändert. Die Politik fährt auf Sicht und versucht dadurch Stärke zu simulieren, dass sie versäumte Krisenvorsorge durch immer brachialere Freiheitsbeschränkungen überdeckt. Doch die Prokrastination von Problemen ist immer ein Bumerang: Was auf die lange Bank geschoben wurde, kommt jetzt im Zeitraffer zurück“, schreibt Milosz Matuschek.

Früher nannte man es die Selbstzerstörung der Wachstumsgesellschaft. Oft darüber geschrieben – und?

Die herrschende Klasse in Deutschland will keine Demokratie wie in der Schweiz sondern weiter sich selbst regulieren. Wohin wird das führen? Wir haben keine Volksarmee mehr, die wir nun dringend brauchen könnten. Was bedeutet das? Matuschek hat es auf den Punkt gebracht.

Geld führt und so führt uns das Geld weiter und wird uns auch weiter führen, nur wie und wohin ist noch nicht vollständig klar. Und unsere Möglichkeiten darauf Einfluss zu nehmen, hat man uns immer mehr genommen oder gibt sie uns nicht.

Führt uns Corona in die Krise, ins Koma oder in eine neue Perspektive? Wir sind mittendrin, es kommen schwierige Zeiten und alte Rezepte reichen nicht für länger.

Was werden wir davon fotografieren, wo liegen unsere blinden Flecken, welche Themen meiden wir, was sehen wir.

Unser Blicke sind entscheidend für unser Sehen.

Ich bin gespannt welche Fotos ich über diese Zeit zu sehen kriege.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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