Dokumentarfotografie – Soziale Kämpfe im Ruhrgebiet und im Bergischen Land zwischen 1987 und 2010

mannesmann1999

Es hat knapp dreißig Jahre gedauert bis die Fotos von Michael Kerstgens über den Stahlarbeiterstreik 1987 in Duisburg-Rheinhausen als Buch erschienen sind. Dieses Buch wurde u.a. durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Es ist ein gutes Buch geworden und es erinnert mich an meine eigenen Erlebnisse.

Michael Kerstgens zeigt Fotos von 1987 bis 1993 als im Walzwerk in Hagen die letzte Schicht war und symbolisch das Ende des gesamten sozialen Konstruktes.

Und im Bergischen Land ging es dann weiter.

Ich erinnere mich noch wie heute. Am 1. September 1992 fand eine Betriebsversammlung bei  einer großen Remscheider Firma statt. Dort wurde verkündet, daß das Werk aus Remscheid nach Ostdeutschland verlagert wird, weil dort quasi alles subventioniert wurde und die Löhne niedriger waren. Die Entscheidung war die unternehmerisch logische Folge politischer Vorgaben nach der Wiedervereinigung. Auf dieser Versammlung sagte ein Beschäftigter, er könne auch für die Hälfte arbeiten, wenn die Preise und Mieten sich halbieren würden. Aber das war natürlich politisch nicht gewollt. Und so kam es wie es kommen mußte.

Das war der Auftakt und danach wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer in der Region Remscheid/Solingen/Hückeswagen etc.

Meine persönlichen Erlebnisse mit Arbeitsplatzabbau und Sozialabbau „gipfelten“ erstmalig im Kampf um das Mannesmann-Werk in Remscheid 1999 und 2000.

Dabei waren die Interessen innerhalb des Konzerns, der Betriebsräte und der IG Metall je nach Ebene und Funktion sehr unterschiedlich, oft diametral entgegengesetzt wie ich rückblickend im Laufe von Jahren in einem sozialen Puzzle zusammensetzen konnte. Aber Einzelne auch in der IG Metall setzten sich über alle Widerstände hinweg und gaben so den Kämpfenden vor Ort ihre Selbstachtung  zurück, auch wenn dies das Ende ihrer Karriere war.

Mannesmann und Krupp waren eben echt mitbestimmt und deshalb ist die Verantwortung von Arbeitnehmervertretern auch eine andere gewesen als bei der Pseudomitbestimmung, die durch die zweite Stimme des Vorsitzenden immer ausgehebelt werden kann. Das Ganze hat dadurch eine andere politische Qualität. Doch dies nur am Rande.

Ich komme darauf, weil ich mich nach der Beschäftigung mit dem Buch von Michael Kerstgens so genau daran erinnere. In der Bevölkerung in Remscheid war die gleiche Solidarität wie in Rheinhausen und die Abläufe waren denen so ähnlich, daß das Buch von Michael Kerstgens bei mir alte Wunden aufgerissen hat.

Das Ganze nahm mich auch persönlich sehr mit. Und mit Mannesmann endete die Deindustrialisierung ja nicht. Es war kein Umbau es war fast nur Abbau. Die Ursachen waren rein politisch und nicht alternativlos.

So ist meine digitale Dokumentation über den Kampf um Mannesmann in Remscheid 1999/2000 ereignisbestimmt eine logische Fortsetzung der gedruckten Dokumentation über den Kampf in Duisburg-Rheinhausen 1987/1988. 

Es sind Zeitdokumente, weil sie aus der Zeit stammen und in der Situation entstanden sind. Zudem zeigen sie den Übergang vom Papier zum Pixel und dokumentieren so die Nutzung neuer Medien neben bisherigen Medien. Beides ist gut, keins ist „besser“.

Aber die sozialen Themen bleiben: soziale Kämpfe zwischen Ruhr und Rhein entlang der Wupper.

Doch dies war ja noch nicht das Ende dieser riesigen sozialen Verlagerungs- und Vernichtungswelle.

Die Region vor dem Ruhrgebiet im Bergischen Land zerbröckelte in dieser Zeit industriell sehr stark, weil die Politik nur öffentliche Gelder für den Strukturwandel im Ruhrgebiet bereitstellte. Die Landes- und Bundespolitiker zuckten immer nur mit den Schultern, wenn Geld für den Strukturwandel in Remscheid, Solingen und Umgebung gefordert wurde. Da kam nichts.

Dafür kamen Firmenpleiten und Verlagerungen in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß.

Wie faßt man so etwas visuell zusammen?

Ich tat dies, indem ich beispielhaft Ereignisse herausgriff, die für viele andere in dieser Zeit standen und dokumentierte das fotografisch unter dem Titel 15 Blicke auf das Arbeitsleben bis zu dem Versuch, die Agenda 2010 mit der Rente ab 67 zu verhindern, die den Arbeitnehmern dann den Rest gab.

Ich habe dann später in zwei Büchern das Ganze als Industrielle Arbeitswelt in Remscheid und Solingen noch einmal vertiefend dargestellt.

Im Zusammenhang mit dem Verlassen der Epoche des Industriezeitalters habe ich die historische Einordnung zusätzlich noch einmal visuell unterlegt am Beispiel des Untergangs der Firma Honsberg Lamb.

Alles endete in diesem Ausmaß ungefähr 2010 als die Agenda 2010 voll wirkte und der soziale Kahlschlag in Deutschland als asoziale Meisterleistung politisch gefeiert wurde.

Regional betrachtet sind damit wesentliche Kämpfe mit Symbolcharakter, die die Machtverhältnisse und die politisch gemachten sozialen Veränderungen und Verwerfungen zeigen, fotografisch dokumentiert und stehen als Teil des visuellen Gedächtnisses dieser Region zur Verfügung.

Nicht alles ist gedruckt aber alles ist präsent und öffentlich und meine Dokumentationen sind hier noch digital online, wobei sie nirgendwo legal archiviert sind. Digitale Archivierung wird erst langsam zum Thema von Archiven und Museen. Wenn der Strom mal weg ist, ist alles weg …

Alle Fotos sind Kinder ihrer Zeit. Michael Kerstgens hat damals die analogen Reportagefotos in Schwarzweiß gemacht, ich habe die ersten digitalen Fotos in Farbe mit kleinen Kompaktkameras gemacht und versucht, diese schon 1999 in die Internetwelt zu tragen mit der Domain solidaritaet.de.

Heute übernehmen dies nur zum Teil soziale Netzwerke, weil diese ja auch Ausdruck von Machtverhältnissen sind.

Was sich zwischen Ruhr und Rhein getan hat ist nun mit Fotos aktualisiert verfügbar.

Die Fotos tun heute natürlich nur noch denen weh, die damals Erlebnisse hatten, die sich einprägten. Für alle anderen sind sie oft eher langweilig, weil sie Nüchternheit, Funktionalität und Industrielle Zivilisation zeigen, eben die sichtbaren Elemente einer eher unsichtbaren sozialen Landschaft, die nur bei sozialen Ereignissen mal sichtbar wird.

In Duisburg-Rheinhausen war Franz Steinkühler, in Remscheid waren Klaus Zwickel und Peer Steinbrück und Wolfgang Clement. Wolfgang Clement malte man sogar ein großes Porträt, weil er als Hoffnungsträger galt. Aber bei ihm hatten sich ja alle gründlich getäuscht.

Das visuelle Gedächtnis der Region ist nun besser sichtbar. Die sozialen Narben der Beteiligten und Betroffenen sind nur persönlich spürbar.

Aber ohne das Buch von Michael Kerstgens hätte ich den Blick nicht noch einmal so auf das Geschehen gelenkt und meine Bilder im Kopf herausgeholt. Sich dem zu stellen bedeutet damit zu leben.

Es gab kein Happyend für die Region und viele Betroffene.

So wurde aus der erlebten Gegenwart Geschichte und dies wurde Teil der eigenen Lebensgeschichte. Und vor Ort gibt es neue Herausforderungen.

Zudem sind die gemachten Ausführungen ein Beleg dafür, wie lange es dauert, bevor dies alles überhaupt Gegenstand medialer Debatten wird – wenn überhaupt etwas passiert.

Schon 1984 hat Dolf Touissant in seinem Buch Industrielle Zone den Niedergang der Schwerindustrie von Frankreich über Belgien bis ins Ruhrgebiet fotografisch festgehalten. Das Buch kennt fast niemand mehr, obwohl es eine fotografische Warnung und ein Vermächtnis war.

Zur gleichen Zeit – um 1984 – dokumentierten in den USA ein Journalist und ein Fotograf dort die Situation im Rust Belt, der Zone der Schwerindustrie, die dort ebenso verschwand und soziales Elend hinterließ: „In Someplace Like America, writer Dale Maharidge and photographer Michael S. Williamson take us to the working-class heart of America, bringing to life—through shoe leather reporting, memoir, vivid stories, stunning photographs, and thoughtful analysis—the deepening crises of poverty and homelessness. The story begins in 1980, when the authors joined forces to cover the America being ignored by the mainstream media—people living on the margins and losing their jobs as a result of deindustrialization. Since then, Maharidge and Williamson have traveled more than half a million miles to investigate the state of the working class (winning a Pulitzer Prize in the process). In Someplace Like America, they follow the lives of several families over the thirty-year span to present an intimate and devastating portrait of workers going jobless.“

So ist der Niedergang der Schwerindustrie bis heute fotografisch im „Westen“ der Welt dokumentiert, ohne daß die Verelendung der Menschen wirklich politisch gelöst worden wäre – weder in den USA noch in Deutschland. Man könnte sogar noch Workers von Salgado hinzunehmen, um den Bogen noch größer zu spannen. Es sind ja immer die ehrlichen und fleissigen Menschen, die dran glauben müssen.

Die neoliberale Welt hat die Probleme alle nicht gelöst aber verstärkt, das steht fest.

Das Soziale ist eben Schicksal und Chance des Menschen.

Und Macht wird nur durch Gegenmacht begrenzt, auch in Organisationen und in Gesellschaften.

Das bleibt.

V1.2

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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