Exodus. Sebastião Salgado

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Die UN-Vollversammlung hat den 20. Juni zum zentralen internationalen Gedenktag für Flüchtlinge ausgerufen. Dieser Tag wird in vielen Ländern von Aktivitäten und Aktionen begleitet, um auf die besondere Situation und die Not von Millionen Menschen auf der Flucht aufmerksam zu machen.

Weltweit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 41 Millionen in ihrem Heimatland. „Noch nie zuvor wurde die Marke von 60 Millionen Geflüchteten und Vertriebenen überschritten.“

Und nun liegt es vor mir, das Buch, das dies alles schon vor einer Generation zeigte und niemand kann sagen, er hätte es nicht früher wissen können.

„Denn der Band handelt eigentlich nicht von Einwanderern, sondern von Menschen auf der Flucht. Er wolle »die Geschichte einer in Bewegung geratenen Menschheit» erzählen, meint Salgado in seinem Vorwort. Seit Anfang der Neunziger hat er daher »Armutsflüchtlinge» an den Grenzen von USA und EU fotografiert, ethnische Flüchtlinge in Ex-Jugoslawien oder Ruanda sowie Menschen auf der »Landflucht» in den Metropolen Asiens und Lateinamerikas. Er selbst sei vor der Militärdiktatur in Brasilien nach Europa geflohen, betont der heute in Paris lebende Salgado. Daher könne er sich mit Flüchtlingen identifizieren. Seine Bilder sollen die Sensibilität für das zunehmende Elend verstärken.“

Diese Worte aus der Wochenzeitung freitag erschienen im Jahr 2000 als das Buch zum ersten Mal erschien.

Heute schreiben wir das Jahr 2016.

Die Neuausgabe heißt auf Deutsch Exodus, das bedeutet u.a. Auswanderung und Flucht.

Es ist ein Glücksfall, daß dieses Buch noch einmal aufgelegt wurde. Denn es war nur noch unter Sammlern zu hohen Preisen erhältlich. Damals kritisierte der Freitag das Buch wegen der Art wie Salgado fotografiert: „Wenn der westliche Betrachter den aufwendigen Bildband zur Hand nimmt, dann wird ihm in erster Linie ein hochästhetisches Panorama geboten. Nur selten fangen Salgados Bilder tatsächlich Situationen ein; es gibt kaum Dynamik. Im Mittelpunkt der Bilder stehen häufig charaktervolle Gesichter. Der überwiegende Teil der Fotos ist ganz bewusst inszeniert – eine kunstvolle Mischung aus Antlitz, Ambiente, Natur, Licht. Noch deutlicher wird diese Arbeitsweise bei den Porträts von Kindern, aus denen er einen Zusatzband gemacht hat. Salgado verwandelt das Foto zurück in ein Gemälde.“

Eine solche Kritik ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. Und wenn aus einem Foto ein Gemälde werden sollte, welches mit Licht gemalt wurde, dann ändert dies nichts an der Kraft des Fotos sondern geht stattdessen sogar darüber hinaus.

Schauen Sie selbst!

Es ist vielmehr geradezu ein fotografischer Glücksfall, daß Salgado mehr zeigt als das nackte Elend.

Seine Art der Fotografie macht das Anschauen erträglich und ermöglicht zu bleiben und sich nicht abzuwenden. Die damaligen Schwarzweiss-Fotografien ermöglichen eine nüchterne Distanz und die Fotos selbst sind dokumentierend und nicht ästhetisierend. Das Foto auf S. 127 mit den schlafenden Flüchtlingen ist eher schockierend. Denn wer sich mit Fotos beschäftigt erinnert sich an die Leichenberge im KZ der vergasten toten Menschen und assoziiert diese eher mit den schlafenden Frauen und Kindern auf diesem Foto. Und damit bin ich noch nicht bei den realen Leichenbergen wie die, die man auf S. 193 sehen kann.

Je mehr ich die Fotos von Salgado betrachte und mit heutigen Fotos vergleiche, desto mehr stört mich die Farbe an vielen Flüchtlingsfotos von heute, die oft den Menschen auf den Fotos ihre dominierende Aussage nehmen und durch Farbenpracht ersetzen.

Das Buch Exodus ist ein prächtiges Buch, das Geschichte und Gegenwart vermengt und zeigt, daß die Gegenwart von heute die Geschichte von morgen ist. Und so ist es auch mit den Fotos. Die Fotos von heute erzählen die Geschichte von morgen.

Salgado war damals (sechs Jahre bis 1999) dort wo Flucht und Vertreibung waren. Er sammelte als Einzelperson weltweit Eindrücke. Das ist noch nicht lange her.  Wir waren 1999 und 2000 alle schon dabei. Aber wenn über Flucht und Vertreibung gesprochen wurde, wen interessierte das? Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt feierte der Neoliberalismus und fraß alle sozialen Strukturen, die er kriegen konnte. Und eine der Folgen in unserer Zeit ist die Zunahme von Flucht und Vertreibung.

Immer mehr Menschen kommen aus „gescheiterten Staaten“ zu uns wie Sebastiao Salgado heute zu Recht erklärt.

Und weil er diesen Weitblick hat, schrieb er schon 1999: „Für mich sind diese weltweiten Völkerwanderungen eine ähnlich historische Zäsur wie der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Lebensweise, Produktion, Kommunikation, Verstädterung und Reisegewohnheiten sind revolutionären Veränderungen unterworfen.“

Statt damals die Ästhetik von Salgados Fotos zu kritisieren, hätten die Journalisten vom Freitag sich medial mal besser mehr dafür eingesetzt, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Das haben sie aber nicht getan wie man heute sieht.

Und deshalb ist das Buch von Salgado ein gutes Buch zur genau richtigen Zeit. Seine Fotografien ordnen die aktuellen Entwicklungen in einen historischen Kontext ein und zeigen, daß in den letzten 20 Jahren nichts besser wurde sondern stattdessen der Neoliberalismus den Verlust der Staatlichkeit ebenso verstärkt hat wie die Zunahme von Krieg, Flucht und Vertreibung.

Salgado erzählt in diesem Buch visuell Geschichte und er liefert zudem eine Ästhetik, die es möglich macht hinzuschauen.

Das Buch ist fotografisch und inhaltlich richtig gut und zeigt Zeitgeschichte mit direkten Verbindungen zur Gegenwart. Bücher können Zusammenhänge über den Tag hinaus aufzeigen. Dieses Buch kann durch seine Neuauflage sogar direkt die Tür zwischen gestern und morgen öffnen.

Insofern ist dieses Buch ein Geschichtsbuch, schreibt selbst Geschichte und fordert uns auf, mit Realismus und Weitblick demokratische und soziale Antworten zu finden auf die menschlichen Tragödien. Dazu gehört aber eben auch die Einsicht, daß die Voraussetzung die Stärkung der demokratischen Staatlichkeit ist und nicht deren Verlust durch offene Grenzen ohne Kontrolle.

Freiheit braucht einen Rahmen wie gute Fotos auch.

Das Buch ist im Taschen Verlag erschienen.

Sebastião Salgados groß angelegte Bilddokumentation Exodus ist mittlerweile ein Klassiker zum Thema Migration und Vertreibung. Mehr als sechs Jahre investierte er in den 1990ern, um auf der ganzen Welt Menschen zu porträtieren, die durch Krieg, Völkermord, Unterdrückung, Elend und Hunger gezwungen waren, ihre Heimat aufzugeben und sich auf eine Reise mit ungewissem Ausgang zu begeben. In Südamerika, auf dem Balkan, in den Slums der Megacitys Asiens, im Nahen Osten und im Herzen Afrikas traf er Menschen, die zu einem Leben verurteilt waren, das sich der kleine glückliche Teil der Menschheit, der in Wohlstand und Frieden lebt, kaum auszumalen vermag.

Weit mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Exodus erstmals veröffentlicht wurde. Zu den größtenteils immer noch virulenten Krisenherden der 1990er sind neue hinzugetreten, zu den Millionen von heimatlosen und unbehausten Menschen von damals weitere Millionen hinzugekommen.
Im Balanceakt zwischen der Dramatik der Situation und den ästhetischen Ansprüchen an Aufbau und Komposition seiner Bilder führt Salgado uns einen Prozess globaler Verelendung vor Augen, aus dem wir uns als Akteure im globalen Zusammenspiel ökonomischer und politischer Prozesse nicht mit voyeuristischer Schaulust entziehen können. Nicht erst seit Flüchtlingsboote an den Mittelmeerküsten anlanden und Ertrunkene an den Stränden liegen.

Sebastião Salgado begann 1973 seine berufliche Karriere als Fotograf in Paris und arbeitete in der Folge für die Fotoagenturen Sygma, Gamma und Magnum Photos. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Lélia die Agentur Amazonas images, die sein Werk exklusiv vertritt. Salgados fotografische Projekte wurden in zahlreichen Ausstellungen und Büchern gezeigt, darunter Other Americas (1986), Sahel, L’Homme en détresse (1986), Arbeiter (1993), Terra (1997), Migranten (2000), Kinder der Migration (2000), Africa (2007) und Genesis (2013).
Lélia Wanick Salgado studierte Architektur und Stadtplanung in Paris. Ihr Interesse für die Fotografie entdeckte sie 1970. In den 1980er-Jahren begann sie, Fotobücher zu konzipieren und zu gestalten und Ausstellungen zu organisieren, u.a. über Sebastião Salgado, darunter Genesis. Seit 1994 ist Lélia Wanick Salgado Geschäftsführerin von Amazonas images.

Leben auf der Flucht
Sebastião Salgados klassische Bildreportage zu Migration und Vertreibung
Sebastião Salgado. Exodus
Sebastião Salgado, Lélia Wanick Salgado
Hardcover mit Begleitheft, 24,8 x 33,0 cm, 432 Seiten

ISBN 978-3-8365-6129-7
(Deutsch)

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

One thought on “Exodus. Sebastião Salgado

  1. Sebastiao Salgado ist ein faszinierender Fotograf, seine Fotos sind bildgewaltig und haben einen eigenen wunderbaren „Look“. Dieses Buch kenne ich noch nicht, aber dieser Bericht hat mein Interesse geweckt, das besprochene Buch zu kaufen. Danke für ihre Arbeit.

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