Vom Abbild zum Reflex – verkaufsfähige Dokumentarfotografie im 21. Jhrdt.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Früher waren Fotos Abbilder der Realität mit den Rändern, die die Fotografen/innen setzten. Dann kam das Problem der digitalen Echtzeitaufnahmen mit den Handys. Ereignisse wurden direkt vor Ort aufgenommen und hochgeladen und wurden so für die Welt sichtbar.

Bild-Reporter begriffen, dass ihre Jobs in der bisherigen Form verschwinden werden. Und der Journalismus kriselte während es immer mehr Bilder und Videos gab. Die Dokumentarfotografie als Arbeitsbereich wurde aber nicht kleiner sondern anders und größer. Und es kamen neue Formen der Wirklichkeit auf.

Das hat auch zivilisatorische Hintergründe. Heute gucken die meisten Menschen nicht mehr aus dem Fenster, um zu sehen wie das Wetter ist sondern sie schauen auf das Smartphone. Die Welt wird über den Bildschirm entdeckt. Es wird nicht die vorgefundene Wirklichkeit sondern die konstruierte digitale Wirklichkeit wahrgenommen.

So hat sich auch in der Fotografie der Schwerpunkt verändert. Aus den Abbildern der Realität wurden Reflexionen der Realität. Und damit sind wir bei der inszenierten Fotografie.

Vom Abbild zum Reflex

Ein Herr Fkoltermann hat in einem Blogbeitrag vom 21.01.2013 über eine Ausstellung der Agentur Ostkreuz folgendes formuliert: „So war es auffällig, dass einige Arbeiten die Grenzen der bildjournalistischen Darstellung hin zu Corporate-, Werbe- und Modefotografie ausloteten bzw. durchaus auch überschritten. So mutete die großformatige angelegte Arbeit von Frank Schinski über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wie einem Corporate Magazin eines börsennotierten Konzerns entnommen. Die inhaltlich gut recherchierte und sehr spannende Arbeit „Terminal“ von Tobias Kruse stellte in ihrer Wandhängung das Bild einer halbnackten für die Kamera posierenden jungen Frau in den Vordergrund. Dieses Bild ist ästhetisch zwischen zeitgenössischer Modefotografie und Arbeiten von Larry Clark zu verorten. Bei dieser Optik ist es nicht verwunderlich, dass das Zeit-Magazin die Strecke druckte.“

Mehr zu diesem Thema gibt es in einem Video auf Vimeo. Das Video erinnert mich sehr an Fotos  von Wolfgang Tillmans, in deren Folge er den Turner-Preis gewann, den DGPH-Preis erhielt und mittlerweile sogar Mitglied in der Akademie der Künste in Berlin ist.

Dorothea Hülsmeier will aus ihm sogar den „Anti-Gursky“ machen. „Andreas Gursky, der seine Bilder so stark am Computer bearbeitet, dass sie wie Gemälde aussehen, ist der andere Pol der Fotografie. Bei Tillmans zählt die Authentizität. „Das, was in den Medien gezeigt wird, ist alles überarbeitet“, sagt er. „Diese Linie will ich nicht überschreiten.“

Puuuh – kann man das so sehen und stimmt das so?

Übrigens scheint der Artikel von Dorothea Hülsmeier ein Kaufartikel von dpa zu sein. Er erscheint in vielen verschiedenen Zeitungen. Und gerade in der letzten Verlinkung ist ja das Foto von „Lutz und Alex sitzen in den Bäumen“ zu sehen. Es ist ein inszeniertes Foto.

Die Wikipedia schreibt: „Wolfgang Tillmans inszeniert seine Photographien in unterschiedlichen Größen und Formaten in genau konzipierten All-Over-Wandinstallationen…“ Und weiter lesen wir dort: „Er galt seitdem als der „Chronist seiner Generation, vor allem der Londoner Club- und Schwulenszene“. Für mich ergibt sich daraus, dass ihn das Anstössige bekannt und verkaufsfähig machte.

Dass er seinen Arbeitsbereich erweitert hat, wird ihm anläßlich seiner aktuellen Ausstellung von der Welt so attestiert: „… sondern dieses Tillmans-Design, das von der Welt als gut aushaltbarem Zusammenhalt des Nichtzusammenhaltenden berichten möchte, und dann doch nur zum Ergebnis kommt: viel gesehen, überall gewesen, alles im Angebot.“

Aus meiner Sicht sind die Installationen auch Reflexe der Wirklichkeit ebenso wie die Bearbeitungstechniken der aufgenommen Fotos von Tillmans.

Schauen Sie doch einfach mal auf seine eigene Webseite, um sich ein Bild zu machen und dort Dinge zu finden, die wirklich bemerkenswert sind.

Haben Sie was gefunden? Ist das der Anti-Gursky?

Herr Zimmermann schreibt bei derstandard.at  Tillmans der „Der Messie unter den Fotografen“. Das erscheint nicht abwegig.

Besonders fasziniert bin ich von der Rezension, die Frau Swantje Karich bei faz.net geschrieben hat. Dort steht wirklich folgender Satz: „Wenn bei Tillmans ein Mann auf einen Stuhl pinkelt, hat das nichts Aggressives, Abgestumpftes, Depressives, sondern etwas Verträumtes, Sehnsuchtsvolles.“

Da fällt mir dann nichts mehr zu ein. Es gibt echt unterschiedliche Welten in der Beurteilung und Wahrnehmung. So mag sich jeder selbst eine Meinung bilden, zumal die Freiheit der Kunst auch Gedankenfreiheit ermöglicht.

Wenn wir nun weiterblicken, dann sehen wir, dass dies nicht die einzigen Versuche sind, die Wirklichkeit verkaufsfähig zu machen.

Es geht darum, dass die Wirklichkeit neu in Szene gesetzt wird. Sie wird quasi zum Thema und dieses Thema wird dann in Szene gesetzt.

Aktuell diskutiert wird die Vogue mit der Fotografin Annie Leibovitz und ihre fotografische Thematisierung des Hurrikan Sandy.

Sie hat dieses Ereignis zum Anlass genommen, um Models mit Szenen der Naturkatastrophe in Szene zu setzen.

Die wikipedia schreibt zur inszenierten Fotografie:Inszenierte Fotografie ist der strategische Aufbau der Bildaussage einer fotografischen Aufnahme mit dem Schwerpunkt auf Motiv und Gestaltung – vor oder während der Aufnahme.“

Aber diese Aussage reicht nicht. Ich schreibe ja auch einen Artikel dazu und viele andere äussern sich ja auch dazu, weil hier etwas dazukommt, was zur Aufregung führt.

Es ist die Fortentwicklung von „sex sells“: Je anstößiger, je perverser, je gemeiner – desto besser verkauft es sich offenkundig heute – kann man das so sagen?

Geht es darum, Elend und spezielle Sexualität als Vorlage für verkaufsfähige Produkte zu nehmen? Und damit macht man Geld und gewinnt Preise?

Weil man den Zeitgeist einfängt, weil man gesellschaftliche Tabuthemen aufzeigt?

Wenn es so ist, dann gilt es aber nicht nur für Fotografien.

Es gibt ja auch Sendungen im Fernsehen, in denen Frauen Schafshoden essen, um Punkte für ihr Team zu erhalten. Und auch dort sind dann Millionen von Zuschauern und die Werbung ist auch da.

Doch zurück zur Fotografie.

Ich kann das aus meiner Sicht hier nur beschreiben.

Die Opfer selbst sind gar nicht mehr sichtbar, höchstens als vermarktungsfähiges Hintergrundmaterial. Sie werden eingebunden in einen fotografischen Zusammenhang. Und dies alles wird als verkaufsfähiges Produkt konzipiert. Denn es gibt sie ja offensichtlich, die Kunden mit viel Geld, die so etwas kaufen – also wollen – und die Menschen, die dafür Preise verleihen, damit die Produkte teurer verkauft werden können (?).

Ist also nur das Anstössige, Schmutzige noch verkaufsfähig?

Nein, das stimmt so natürlich nicht ganz finde ich.

Thomas Gursky macht z.B. auch inszenierte Fotografie. Diese ist aber weder anstössig noch schmutzig, sie ist nur groß und inszeniert.

Aber aus meiner Sicht zeigt sich auch bei ihm, dass nur die Inszenierung verkaufsfähig ist.

Jeff Wall macht auch inszenierte Fotografie und ist sehr erfolgreich. Es gibt noch viel mehr Beispiele.

Was kann man daraus lernen?

Die Wirklichkeit ist heute in der Fotografie vermarktungsfähig, wenn sie eine Inszenierung ist (oder Installation?!) und/oder so anstössig, dass sie ihre Käufer findet.

Ereignisfotos gibt es quasi umsonst im Internet und die Wirklichkeit als Abbildung auf der Fotografie hat nicht den Glamour der inszenierten Fotos.

Dies alles ist natürlich nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den ich aufgeschrieben habe. Es gibt sicherlich noch mehr fotografische Parallelwelten, aber dominierend auf dem Markt scheint aktuell die hier beschriebene Art der Fotografie zu sein.

Text 1.2

Nachtrag: Der Artikel stammt von 2013. Hier ist ein neuer Artikel aus dem Jahr 2022 verlinkt. Vergleichen Sie mal!

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

4 thoughts on “Vom Abbild zum Reflex – verkaufsfähige Dokumentarfotografie im 21. Jhrdt.

  1. Ein unglaublich spannendes Thema, wie ich finde.
    Und natürlich ändert sich in der Zeit der digitalen Manipulation auch die ästhetische Wahrnehmung – wenn man ganz genau hinschaut, dann gleichen viele der inszenierten Bilder Ausschnitten aus Computerspielen. So genau kann man das gar nicht mehr trennen, was Fotografie und was reine Computermanipulation ist. Die virtuelle Welt wird uns als Realität verkauft und dargestellt – wir sollen glauben, was passiert. Und natürlich nutzt sich das irgendwann einmal ab, da nur das Neue noch spannend ist.

    Was die sehr Anstößige und geschmacklose Art des Verkaufens angeht, wundert es auch nicht: wer Erfolg haben will, bzw. erfolgreich sein will, muss auffallen. Um jeden Preis! Es gibt zu viele junge Talente, die genauso gut fotografieren wie die Leibovitz und Konsorten. Und da heutzutage per Computer so viel manipuliert wird, ist es auch gar nicht mehr erforderlich, dass sie sensationell gute Fotos macht. Es reicht, wenn sie mittelmäßig ist. Also muss sie ihre Fotografie auf andere Art und Weise herausstellen – die Vogue-Strecke ist pure, geschmacklose Effekthascherei. Da stimme ich dir voll und ganz zu.

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