Mit Voreinstellungen suchen und finden

Ich bemerke immer wieder meine Vorurteile und meine Voreinstellungen. Ich merke sie, weil ich mir an der Uni geistige Instrumentarien angeeignet habe wie kritische Distanz, Selbstreflexion, intersubjektive Nachprüfbarkeit, Statistik, Relevanz, Interessengebundenheit und vieles mehr. Damit ziehe ich mich dann immer wieder selbst aus dem Sumpf – glaube ich.

Im Laufe meines Lebens ist mir dann aber noch etwas aufgefallen. Ich bin 1962 geboren und habe neben Jura und SoWi u.a. Geschichte studiert. Mein Schwerpunkt lag dabei im Bereich Zeitgeschichte und 3. Reich.

„Mein politischer Ziehvater war Dr. Siegfried Middelhaufe, der in NRW nach dem 2. Weltkrieg die Polizei mit Walter Menzel wesentlich neu gestaltete. Er erzählte mir immer, daß er abends Haftbefehle für Nazis ausstellte und die am anderen Morgen schon weg waren, weil die Organisation ODESSA heimlich informierte.

Als Arbeiterkind und SPD-Mitglied (damals) glaubte ich, daß es gut sei, die Nazizeit aufzuarbeiten, um eine Wiederholung zu vermeiden. Dr. Middelhaufe zeigte mir das Braunbuch der Nazizeit, das die DDR herausgegeben hatte, um die Nazis zu identifizieren. Das gab es in der BRD nicht!

Wie naiv das war habe ich nach dem Lesen des Buches von Norbert Frei erkannt. So trat ich als idealisierter und demokratisch denkender Mensch den alten Eliten und den neuen Eliten auf die Füße.

Denn Fressen und Moral waren in beiden Fällen deckungsgleich.

 

Die Gedanken der Nazizeit pflanzen sich im Alltag der BRD fort

Die Nazis waren die Deutschen. So banal es klingt so wenig ist es bis heute bewußt. Ich war als „Nachgeborener“ Teil des neuen Bewußtseins und lebte zugleich mit dem alten Schweigen zusammen.

Ich erinnere mich, daß selbst in der Gaststätte alle zusammen saßen und nur heimlich manchmal erzählt wurde, der war Nazi und der war Kommunist. Öffentlich lebten alle zusammen im Siedlermilieu und in den Industriebetrieben.

Wo sie arbeiteten, wurde genau nach dem Prinzip personalpolitisch gearbeitet, das als Harzburger Modell aus der Nazizeit stammt. So wurde das alte Denken täglich gelebt und dann zu Hause und im Siedlungswesen drumherum eingepflanzt und fortgeführt.

Das galt im Kleinen und im Großen.

 

Die Unis schützten auch vor Wissen

„Und bei der Deutschen Bank leitete Vorstandssprecher Alfred Herrhausen – zwölf Jahre nachdem Hermann Josef Abs aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden war – eine nicht minder radikale Wende ein: Die Archive wurden 1988 erstmals für die wissenschaftliche Nutzung geöffnet“ (109).

Dieser Satz aus dem Buch erklärt mir, warum während meines Studiums dies alles noch keine Rolle spielte und eher die Frage wichtig war, wer war schuld am Kalten Krieg und ob Stalinismus und Nationalsozialismus wesensgleich sind.

Kritische Zeitgeschichte kam eher außerhalb der Lehrpläne vor, wenn man die Bücher von Bernt Engelmann und Reinhard Kühnl las.  Die gab es nicht an der Uni.

Die Uni war ein geschützter Raum im doppelten Sinn.

Das Buch OMGUS oder Die Ermittlungen gegen die Deutsche Bank kam erst viele Jahre später in der Anderen Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger heraus.

 

Die beamteten Lehrer beschützen die Schule

So wuchs ich mit der in der Nazizeit sozialisierten Führungsschicht um mich herum auf und glaubte das, was mir vermittelt wurde.

Wer andern glaubt, insbesondere Studienräten, …

Und so ist dieses Buch ein Buch über die Bundesrepublik, das seinesgleichen sucht.

Das erklärt  übrigens auch die Erlebnisse, die ich später bei dem Buch über Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus hatte.…“

Das obige Zitat ist aus einem Artikel von mir, der mir die Augen geöffnet hat in bezug auf Wissen und wissenschaftlich.

Ich habe gar nicht gemerkt wie eingebunden ich war und wie meine anerzogene Brille mein Sehen und Wahrnehmen beschränkte.

Einige Jahre vorher hätte mir dies schon klar sein müssen als ich ein Buch rezensierte, dessen Inhalt mich faszinierte:

„In seinem Aufsatz „Jenseits der Arbeitsteilung“ zeigt Boike Rehbein, warum unsere Messmethoden und Sichtweisen in Europa und Amerika völlig überholt sind, wenn man einen weiteren Blick auf die Welt wirft.

Wir hängen Fiktionen aus Zeiten nach, die längst vorüber sind.

Er erweitert den Begriff der Arbeit durch die „Vita activa“ von Hannah Arendt und blickt dann auf die Regionen der Welt jenseits der eurozentrischen Arbeitsteilung.

„Meine These lautet nun, dass die Verallgemeinerung der Arbeit in Südostasien noch nicht stattgefunden hat – und auch nie im uns gewohnten Maße stattfinden wird… Aus historischer und asiatischer Perspektive erscheinen liberale und marxistische Theorien, die Arbeit mit Produktion und sozialer Position identifizieren und für den Kern der Gesellschaft halten, wie wahnhafte Fieberfantasien ohne empirischen Gehalt.“

So gesehen muss man auch die Soziologie, die heute gelehrt wird, auf ihre Zukunftsfähigkeit und ihren sozialen Nutzen hinterfragen.“

Und jetzt wird mir dies auch bei der Dokumentarfotografie deutlich.

Das Elendige der Entfremdung thematisieren zieht sich hier ja wie ein roter Faden durch. Es ist offenbar auch immer mein Kampf mit meinem existenziellen Elend in meiner Entfremdung, die mir natürlicherweise immer das Gefühl vermittelt, nicht ich selbst zu sein – Matrix erleben.

Wie meine Erfahrungen in meinem Leben mir gezeigt haben, konnte ich nicht unvoreingenommen suchen und finden. Erkenntnis und Interesse waren und sind untrennbar miteinander verbunden.

Während ich immer arbeiten und sparen mußte ohne Chance in Deutschland, nur um über die Runden zu kommen, erlebte ich parallel den Aufstieg derjenigen, die populäre Fotografen wurden oder Fotokünstler und weil diese z.T. sogar auf meiner Schule waren, weiß ich heute, daß sie einfach privilegiert waren und es auf Kennen statt Können ankommt. So gut wie alle kamen aus materiell sicheren und guten oder reichen Verhältnissen und kannten meine Erfahrungen mit der Not von klein auf nicht.

Mein größter Fehler war damals an die SPD zu glauben als Vertreter des kleinen Mannes.

So macht man auch mit Voreinstellungen seine Erfahrungen.

Digital wird es heute nicht besser.

Wenn ich heute etwas finden will zu einem Thema, dann kann ich in Suchmaschinen Wörter eingeben. Dort erhalte ich interessengebundene Suchergebnisse.

Weil ich viel lese, weiß ich aber mehr und kann detaillierter suchen. Dazu finde ich dann auch wieder interessengebundene Suchergebnisse.

Ich finde nicht, wonach ich nicht suche und ich finde nicht alles. Es kommt also darauf an, wonach ich frage und was zu finden ist.

Mit diesen Einschränkungen muß ich leben und dies auch kritisch reflektieren.

Es ist also eine Illusion ohne Voreinstellungen leben oder suchen zu können.

Wenn man das weiß, hat dies auch sein Gutes.

Erich Fromm hat darauf hingewiesen, daß man durch Abgrenzung seine eigene Identität bildet. Auch dies gehört dazu.

Wenn man dies alles weiß, hat man geistige Instrumente, die man einsetzen kann.

Und das sieht so aus:

„David Yalom hat sehr schön zusammengefaßt, wie sich unsere Weltsicht entwickelt hat: „Oft schon wurde festgestellt, daß drei wichtige geistige Umwälzungen die Idee von der zentralen Stellung des Menschen bedroht haben. Als Erster demonstrierte Kopernikus, dass die Erde nicht der Mittelpunkt ist, um den sich alle anderen Himmelskörper drehen. Als Nächster zeigte uns Darwin, dass wir keine zentrale Rolle in der Kette der Evolution spielen, sondern wie alle anderen Geschöpfe aus anderen Lebensformen entstanden sind. Und drittens erklärte uns Freud, daß wir in unserem eigenen Hause nicht die Herren sind – ein Großteil unseres Verhaltens werde von Kräften ausserhalb unseres Bewusstseins beherrscht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Freuds verkannter Mitrevolutionär Arthur Schopenhauer war, der schon lange vor Freuds Geburt postulierte, dass wir von tiefgreifenden biologischen Mächten gesteuert werden und uns dann einbilden, wir hätten unser Schicksal bewusst gewählt.“

Na dann!

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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