Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert von Nicole Wiedenmann

Symbolik pur auf über 500 Seiten. So könnte man die Doktorarbeit von Nicole Wiedenmann „Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert. Zwischen Dokumentation, Agitation und Memoration“ zusammenfassen. Das dicke Buch hat es in sich.

„Denn was in der fotografischen Abbildung der Revolution erscheint, ist folglich nicht die Repräsentation einer vor-semiotischen und vor-medialen Revolutionswirklichkeit an sich, sondern die fotografische (Re-)Produktion jener kulturellen Symbolpraktiken des und im Revolutionären, an denen die Fotografie selbst wiederum beteiligt ist.“

Dieser Satz von Seite 62 zeigt ungefähr das sprachliche Niveau des Buches und den Kern, um den es geht.

Und so wandert Frau Wiedenmann auf diese Art und Weise mit uns durch vergangene Zeiten, grob gesagt von der Französischen Revolution bis zum Arabischen Frühling.

Doch zunächst klärt sie den Revolutionsbegriff und beginnt mit einem selbst gesetzten Wegweiser: „Invarianz der Merkmale – mithin gleichbleibende Identität des Bezeichneten mit sich selbst – und gleichzeitig Unterscheidbarkeit von anderen Entitäten – also eindeutige phänomenale Alterität – wären somit als Mindestanforderungen an die wissenschaftliche Tragfähigkeit des Begriffs Revolution zu verstehen.“

Dann entwickelt sie zunächst begriffsgeschichlich ihr Vokabular und zeigt die Relativität von Einordnungen und Wertungen.

Viele Fotos haben Vorbilder in der Malerei. Das arbeitet sie sehr schön heraus und zeigt uns, daß auch Aufnahmen mit Kameras im Kopf entstehen durch das, was da vorher schon drin war.

Die Übernahme des Christus-Motivs für gestorbene Helden der Revolution zeigt mir zugleich, daß die gesamte Revolutionsfotografie eine westliche Erscheinung ist. Es gab in den arabischen Ländern mit ihren Scheichs und dem Islam keine Fotos und Symbole und schon gar keine Fotos von Frauen als Symbole für Freiheit und den Kampf für die Demokratie. Das schreibt sie so zwar nicht, dafür ergibt sich das für mich aber direkt aus dem ganzen Buch. Und deshalb frage ich mich, was der Islam mit seinem Frauenbild und dem Kopftuch als Symbol der Unterdrückung auf dem Boden der Freiheit zu suchen hat, zumal er ja in seiner politischen Ausprägung alles ablehnt, was Frauen und Freiheit ausmacht. Aber das ist ein anderes Thema jenseits des Buches.

Wer die mehr als 500 Seiten schafft, erhält einen umfassenden Einblick in das Thema Revolutionsfotografie mit seinen vielen offenen Fragen und vor allem die Einsicht, daß Fotos Bewußtsein mitmachen und Weltgeschehen im Kopf entstehen lassen.

„Entsprechend geht es darum, Theorien und Bildanalysen in einen Dialog eintreten zu lassen, der wechselseitige Einblicke in die Funktionen von Fotografien in revolutionären Kontexten und in die sie vorbereitenden, flankierenden und reflektierenden Diskurse ermöglicht. Somit sind Bildartefakte von Revolutionen stets mehr als eine plane Repräsentation des Ereignisses selbst – vielmehr sind sie an dem Geschehen als weitere Produktivkräfte beteiligt, interagieren mit den Handlungen der Akteure, dem Reden über die Revolution, den kollektiven und mythischen Imaginationen von der Revolution, die sich immer wieder wechselseitig vorantreiben, durchdringen und überlagern.

Genau diese Verflechtungen zwischen dem Gesagten (Diskurs), dem Gezeigten (Bild bzw. Fotografie) und dem Getanen (Performanz) werden anhand exemplarischer Bildtopoi herausgearbeitet, um über die je einzelne Revolution hinausgehende Einsichten in die allgemeine Sinn- und Symbolproduktion von und in Revolutionen gewinnen zu können.“

Es ist im Herbert von Halem Verlag erschienen.

ISBN 978-3-7445-1204-6

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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