Die Ostdeutschen von Roger Melis

„Ihm ging es stets um die genaue Beobachtung von Menschen und Vorgängen, und dafür nahm er sich immer so viel Zeit wie möglich. Bilder, die mit leichter Hand im Vorübergehen entstehen, Images a la Sauvette wie Henri Cartier-Bresson sie nannte, sind in seinen Reportagen wie in seinem sonstigen Werk die Ausnahme.“

Mathias Bertram hat diese sehr präzise Beobachtung in seiner Einleitung zu den Fotografien von Roger Melis formuliert.

„Für Roger Melis stand außer Frage, dass das Wesen der gesamten Fotografie dokumentarischer Art sei, wie es August Sander einst formulierte.“

Mathias Bertram als Herausgeber hat es zusammen mit dem Lehmstedt Verlag übernommen, die Fotos aus dem Nachlass der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist dieses Buch ein kleines Juwel, weil es mit Sorgfalt und Wohlwollen eine Zeit ins Bild holt, die heute fast niemand mehr sehen will und die auch sonst fast nirgendwo vorkommt.

War Melis eine Art August Sander der DDR?

Man könnte diesen Eindruck bekommen, wenn man sich die Themen anschaut. Allerdings fehlt die duchgängige Typologie im Bild, die das Werk von Sander auszeichnet. Doch der soziale „Querschnitt“ gelingt.

In dem Buch kommen nicht nur viele Fotos von Menschen auf der Arbeit vor. Vielmehr sind dies zugleich Dokumente über Menschen und ihre Arbeit.

Während heute eher die Funktion fotografiert wird, hat Melis die Menschen bei der Arbeit festgehalten. Statt Arbeit als Werbung für ein Unternehmen zu verstehen, zeigt er die Arbeits- und Lebensbedingungen.

Das ist heute aus der Mode, weil die Kraft der Aufklärung verschwindet. Aber es sind dennoch die starken Fotos, die wir hier sehen. Dazu gehören für mich ausdrücklich auch die Portraits der Künstler, die heute im Westen ganz anders aussehen. Ich spüre in den Portraits eine Authentizität, die heute weg ist auf neuen Fotos derselben Menschen. Aus Menschen wurden Masken?

So sind hier erstklassige politische und dokumentarische Fotografien zu finden, die auch sozialgeschichtlich einen hohen Wert haben, weil sie zeigen wie Arbeit im DDR-Sozialismus war.

Aber man muß das auch können.

Solche „Portraits“ von Menschen bei der Arbeit sind sehr besonders. Und auch wenn er und Cartier-Bresson sich unterscheiden, so haben beide doch ihre Portraits nur mit vorhandenem Licht und ungestellt vor Ort gemacht, soweit sich dies mir erschließt.

Und beide haben beeindruckende Fotos erstellt, die viel über die jeweils Portraitierten aussagen.

Beide Fotografen waren eben Könner auf ihre Art!

So kann ich über dieses Buch nur Gutes schreiben. Es ist in einem sehr attraktiven Format, die Fotos bestechen durch gekonnte Aufnahmen und die Auswahl ist excellent, wenn man sich für diese Themen interessiert.

Der Verlag schreibt dazu folgendes:

„Neues aus einem »stillen Land« – zehn Jahre nach dem vielbeachteten Fotobuch »In einem stillen Land« von Roger Melis (1940–2009) versammelt der Band »Die Ostdeutschen« neue, weitgehend unbekannte Fotografien aus dem Nachlass des Mitbegründers und Förderers der ostdeutschen Autorenfotografie. Melis verstand sich als Chronist seines Landes und begann bereits Mitte der 1960er Jahre, Ereignisse des öffentlichen und privaten Lebens in Fotografien zu dokumentieren. Der Band enthält zwölf Bildserien, die, beginnend mit Szenen von einer Militärparade am Tag der Befreiung 1965, über 25 Jahre hinweg bis zur Feier der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 führen. Die Fotografien beleuchten das Leben in der Kleinstadt, auf dem Lande, in Werkstätten und Fabriken, bei öffentlichen Veranstaltungen und privaten Feiern. Die Bildreportagen werden von Porträts von Schriftstellern, Künstlern und Schauspielern, Kindern, Jugendlichen und Familien sowie einer langen Reihe von Berufsporträts begleitet, die Zeugnis von Melis legendärer Bildniskunst ablegen. Die Aufnahmen entwerfen ein differenziertes Bild der Menschen in der DDR und ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie zeugen von Skepsis und Resignation der Ostdeutschen, aber auch von ihrem Stolz, ihrem Widerspruchsgeist und ihren Sehnsüchten.“

 

Das Buch ist im Lehmstedt Verlag erschienen.

Roger Melis

Die Ostdeutschen / The East Germans

Fotografien aus dem Nachlass /
Photographs from the estate 1964-1990

Herausgegeben von / Edited by Mathias Bertram

208 Seiten mit 169 Duotone-Abbildungen
24 x 27 cm, Festeinband, Fadenheftung

ISBN 978-3-95797-083-1

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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