Subjective Objective A century of Social Photography

Im Hirmer Verlag ist ein ganz tolles Buch zur Sozialfotografie erschienen. Es ist auf Englisch aber ich schreibe hier darüber auf Deutsch, weil es zeigt, wie stark die Wurzeln in Deutschland waren.

Im Zimmerli Art Museum gab es dazu eine Ausstellung ohne die es dieses wunderbare substanzielle Buch nie gegeben hätte. Es entstand als kollektives Werk und vereint viele gute Seiten.

Kann man Fotografien als Dokumente lesen? Wer das so sieht, der gibt auch Fotografien eine dokumentarische Funktion.

Die MacherInnen des Buches sehen dies so und natürlich haben Sie Recht. Bildmanipulationen gestern und heute nutzen genau diese dokumentarische Funktion aus und bestätigen sie damit.

Krieg dem Kriege von Ernst Friedrich und Antlitz der Zeit von August Sander stehen als Bücher für zwei Bereiche der sozialen Fotografie, die es in Deutschland in der Weimarer Republik gab, bevor in Amerika die Fotos der Farm Security Administration gemacht wurden.

Die Herausgeber Donna Gustafson und Andres Mario Zervigon zitieren Jorge Ribalta, der nachwies, daß die sozial dokumentierende Fotografie als gesellschaftliche Bewegung in Deutschland entstand und nicht in den USA und Großbritannien.

Zudem wird in dem Buch auch Willi Münzenberg erwähnt, der bis heute fast vergessen ist.

Bemerkenswerterweise wurde Ribaltas Ausstellung bis heute in Deutschland nicht gezeigt und das Buch dazu ist bis heute nirgendwo erhältlich. Umso schöner ist es, in einem englischsprachigen Buch eines deutschen Verlages aus einer amerikanischen Ausstellung diesen Beitrag hier nun erwähnen zu können….

Aber man muß natürlich auch sagen, daß dieses Thema nur Fachkreise interessiert und diese sind naturgemäß sehr klein.

Aber das Buch aus dem Hirmer Verlag hat neben den deutschen Wurzeln noch sehr viel mehr Fotografie zu bieten, nämlich den gewachsenen Stamm der sozialdokumentarischen bzw. englisch social photography im englischen und russischen Raum.

Und da geht es dann zunächst in den USA weiter. Besonders interessant finde ich die Darstellung von Donna Gustafson zu dem Fotografen Bill Owens „Performing Documentary Photography in Suburban America, 1970 Style“.

Bill Owens hat Menschen zu hause fotografiert, insofern sind die Fotos gestellt. Aber die Menschen konnten sich selbst in Szene setzen und deshalb sind die Fotos auch ungestellt, weil sie dokumentieren, wie die Menschen sich in ihrem halbstädtischen Umfeld zeigen.

Und auch Gordon Parks taucht auf mit seinem berühmten Satz in freier Übersetzung: „Ich habe meine Kamera als Waffe gewählt gegen all die Dinge, die ich in Amerka nicht mag – Armut, Rassismus, Diskriminierung.“

Und so sehen wir dann Fotos, die die tägliche Diskriminierung zeigen wie an einem Kiosk mit einer Verkausstelle für Weiße und eine für Farbige.

Das Buch hat aber noch eine zusätzliche Dimension. Es enthält viele russische Fotografien mit allen Facetten zwischen Propaganda und reiner Dokumentation. Damit erweitert sich der Blick über den normalen medialen Horizont hinaus und auch Rodschenko wird besser eingebettet in sein Umfeld. Das gelingt ganz meisterlich.

Und in dem Buch ist ein Foto zu sehen, das ich bisher noch nie gesehen habe von Yoshito Matsushige. Es zeigt wie ein Polizist erste Hilfe nach dem Atombombenangriff in Hiroshima leistet. Das beeindruckt mich immer wieder.

Was mich an der Sozialfotografie bzw. sozialdokumentarischen Fotografie so fasziniert ist die Tatsache, daß man einfach nur aufnehmen muß, was da ist und daraus ergibt sich dann in späteren zeitlichen und sozialen Zusammenhängen jeweils eine neue Wahrnehmung vorhandener Wirklichkeit. Das hat mich als Historiker immer besonders fasziniert und als Dokumentarfotograf immer wieder neu die Wirklichkeit sehen lassen in ihrer Zeitgebundenheit und Vielschichtigkeit. Nun gut!

Das Buch aus dem Hirmer Verlag hat mehr als 365 Seiten. Es kann durch die vielen Fotos als reines Fotobuch oder als wissenschaftliches Werk zur Sozialfotografie, sozialdokumentarischen Fotografie bzw. social photography genutzt werden – nicht zu verwechseln mit social network photography.

Es ist so gut, daß ich am liebsten gar nicht aufhören möchte, darüber zu schreiben und deshalb hier einfach stoppe.

Das Buch ist im Hirmer Verlag erschienen.

Subjective Objective
A Century of Social Photography

Hg. Donna Gustafson, Andrés Mario Zervigón

Beiträge von D. Gustafson, S. M. Miller, J. Tulovsky, A. M. Zervigón
Text: Englisch
368 Seiten, 229 Abbildungen
21,6 x 25,4 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-2953-3

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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