Industrielle Zone von Dolf Toussaint

Dolf Toussaint

Der Anfang ist das Ende.

Als Dolf Toussaint 1983 die sterbenden Industriegebiete in Nordfrankreich, Südost Belgien und im Ruhrgebiet fotografierte, zeigte er die damalige Alltagskultur ungeschminkt und im Zusammenhang. Er hatte offenbar Weitblick und sah, was geschehen würde. Ein guter Essay von  Martin Schouten rundet das Buch ab.

Ob es Zufall ist, daß genau in diesen Regionen heute vielfach massive soziale Verwerfungen und Probleme dominieren und dort viele ohne Hoffnung ausharren und beginnen sich zu empören?

Im Buch wird zwischen den drei Industriegebieten nicht getrennt und deshalb weiß man auch nie, wo man ist.

Dies zeigt wie die Funktionalität der Industriegesellschaft länderübergreifend normiert – Menschen, Häuser, Fabriken, Strassen etc..

Nur dann werden Unterschiede deutlich, wenn der Fotograf es bewußt zeigen wollte, indem er Zeitungen, Plakate oder Aushänge mit in das jeweilige Foto integrierte.

Ein vergessenes Buch dokumentiert eine fast vergessene Zeit, die so lange noch nicht vorbei ist.

Bemerkenswerterweise habe ich auch fast zehn Jahre gebraucht, um auf dieses Buch zu stoßen, und dies auch nur, weil ich mich mit niederländischer Fotografie beschäftigt habe.

Es ist eben so, daß sozialdokumentarische Fotografie mit Weitblick und konkretem Blick keinen Blick wert zu sein scheint – außer bei mir hier und an wenigen anderen Stellen.

Ich habe mich in den letzten zehn Jahren in diesem Zusammenhang mit allen Fragen beschäftigt, die mir fotografisch wichtig waren.

  • Ich wollte wissen, welche Menschen früher engagiert fotografiert haben, weil sie damit auch gegen das Asoziale angehen wollten.
  • Ich wollte wissen, was passiert ist mit den vielen engagierten Menschen und ihren Fotobüchern.
  • Ich wollte „richtig“ fotografieren lernen und erlernte dies mit der klassischen visuellen Grammatik und fotografischen Vorbildern.

Aber: Die Ära, die ich meine, ist vorbei.

In gewisser Weise habe ich hier noch einmal das aufgearbeitet, was sozial und fotografisch vor meiner Zeit und während meiner Zeit in der Dokumentarfotografie an Entwicklungen ablief, ohne daß ich es bewußt wahrgenommen habe. Erst mit dem neuen Sehen war ich in der Lage, dies alles zu erfassen und systematisch darzustellen. Die Webseite hatte dann durch die Wechselwirkung zwischen Fotografie in Theorie und Praxis eine Dynamik, die sich im Tun entwickelte.  Einzigartig!

So ist diese Webseite mehr und wird wohl auch Grundlage für ein neues Buch sein können.

Ich habe in diesem Prozess die fotografische Philosophie von Henri Cartier-Bresson und anderen in die digitale Zeit geholt und mit dem Handbuch zur Fineart-Streetfotografie eine gute Anleitung für klassisch-gute Fotografie für uns heute nutzbar gemacht.

Und immer sind es eigene Fotos, die zu sehen sind.

Weil ich selbst ein Kind der Industriezeit bin, ist es auch richtig, wenn der Schwerpunkt auf dem lag, was ich selbst erlebt habe und was meine Interessen prägte.

Gerade die Eingrenzung ermöglichte die intensive Beschäftigung mit dem Themenfeld der Dokumentarfotografie und zeigt hier Zusammenhänge, die sonst nirgendwo zu finden sind.

Da ich kein Netzwerker war, habe ich dafür weder Förderung noch Hilfe bekommen und bin auch nicht in die DGPH aufgenommen worden wegen besonderer Verdienste um die Fotografie. Dafür hat diese isolierte Arbeitsweise eine unglaublich vertiefte Auseinandersetzung mit der Dokumentarfotografie ermöglicht bis zur Schilderung von Zusammenhängen, die die eingetrichterten Bilder aus dem Kopf holen und die Mechanismen der Manipulaton durch Bilder offenlegen. So kann man aus der Matrix aussteigen und mit befreitem Blick sehen – fotografisch und persönlich!

So ist es!

Ich bin diesen Weg gegangen und habe mich solange mit der Dokumentarfotografie auseinandergesetzt, bis ich kaum noch Neues fand. Das ist der Punkt an dem eine Veränderung angesagt ist.

Mein Rahmen steht.

Ausgestattet mit selbst erarbeiteten theoretischen und praktischen Instrumenten sehe ich anders und denke in Zusammenhängen, die ich früher nicht gesehen habe.

Ich habe fotografisch und sozial neu sehen gelernt und mein Horizont hat sich erweitert.

Daher ist dies für mich der Anlaß, mich bei der Vorstellung des Buches von Dolf Toussaint von hier zu verabschieden.

Denn eigentlich fing mit der Zeit, die er so klar und europäisch sah, alles an, was mein weiteres Leben hier prägte.

Es war mein Leben in einer Welt voller Industrie von der Blüte bis zum Zerfall – und dies alles in nur 30 Jahren von ca. 1980 bis 2010!

Das ist historisch interessant und sozial sehr ernüchternd.

Aber so war es und so ist es.

(Unter dem Gesichtspunkt der abgerissenen Industriekultur möchte ich an dieser Stelle auf den Duisburger Christian Brünig aufmerksam machen, der offenkundig mit viel Engagement weit über das Ruhrgebiet hinaus gut mit Fotos dokumentiert hat. So erhält man eine Vorstellung von den Strukturen, die verschwunden sind. Zusätzlich ist die Linksammlung auf lipinski.de gut nutzbar sowie die Verlinkungen im Pixelprojekt-Ruhrgebiet, das allerdings regional sehr eingeschränkt ist.)

Die sozialen Folgen davon sind fotografisch ein anderes Thema.

Damit sind auch die Möglichkeiten der dokumentarischen Fotografie aufgezeigt: sie kann dokumentieren und den Dingen und sozialen Situationen eine Chance geben, nicht vergessen und wieder gesehen zu werden.

Das ist wie Geschichtsschreibung im besten Sinne.

Und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen und wurde zu einem Spezialisten für dokumentarische Fotografie und visuelle Geschichtsschreibung.

Damit nicht genug konnte ich visuell und mit Texten die Zeit dokumentieren, in der ich dabei war. So war es mir möglich, öffentlich und privat Gesehenes und Geschehenes real und mental aufzuarbeiten.

Wer weiß wozu es gut ist!

Alles Gute

Nachtrag:

2,5 Jahre nach diesem Artikel wird dieses Buch auf ruhrspeak.de neu entdeckt mit vielen Fotos.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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