Das Ende der fotografischen Existenz der unteren Schichten?

Foto: Michael Mahlke - Armut in Deutschland, Rentner, Flaschen, Mülltonnen
Foto: Michael Mahlke – Armut in Deutschland, Rentner, Flaschen, Mülltonnen

„Immense Einwanderungswellen haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die amerikanischen Großstädte rapide wachsen lassen und unterschiedliche Nationalitäten auf engstem Raum versammelt. Zwangsläufig wenden sich Reformbewegungen wie auch Künstler und Journalisten den überfüllten Stadtvierteln und der Einwanderungsproblematik zu. Lewis Hine macht sein ersten Aufnahmen um 1905 von Immigranten auf Ellis Island und registriert die Vielfalt ihrer Kleidung, die Heterogenität ihrer Erscheinungsformen. Jack London taucht für seinen Bericht The People of the Abyss aus dem Jahr 1903 in die entsprechenden Viertel von London ein. Wie Riis richtet er seine Darstellung an einer Fülle von faktischen Informationen aus und gerät angesichts der überwältigenden Authentizität der Lebenswelten ins Staunen. …“

Soweit diese kurzen Sätze von Christof Decker zum Thema Fotografie. Da kommt Jack London vor, der sonst immer fehlt, wenn es um sozialdokumentarische Fotografie und ihre Anfänge geht.

Jacob A. Riis in New York und Hermann Drawe in Wien werden genannt, Jack London nicht.

Dabei hat Jack London beeindruckende Sozialfotos in London geschossen.

Danach kam Lewis Hine mit dem Kampf gegen die Kinderarbeit, dann die Fotografie der Farm Security Administration, parallel zur Fotografie der Arbeiterfotografie in Deutschland und der Fotografie der Sowjetunion.

Nun fasse ich mal hundert Jahre in wenigen Sätzen zusammen:

„Wenn es stimmt, dass eine soziale Klasse sich ebenso durch ihre Wahrnehmung als auch durch ihr Wahrgenommensein definiert (Bordieu), dann beginnt für die unteren Klassen in den USA und Europa ihre fotografische Existenz um die Wende zum 20. Jahrhundert.“

Dieser Satz ist von Rudolf Stumberger.

Nach 1945 war alles anders.

Und heute ist das „Wir“-Gefühl der sozialen Klasse weg.

Das waren ca. hundert Jahre vom „Wir“ bis nach dem „Wir“.

Dabei war das „Wir“ entscheidend, um Zusammengehörigkeit und Werte zu leben.

Fotografisch sind heute auch die Bilder der arbeitenden Menschen in dieser Form verschwunden, weil die Arbeit, die durch Fleiß zu bescheidenem Wohlstand und  einem besseren Leben führte, als Teil des öffentlichen Staatsverständnisses verschwand und einer Ideologie des Neoliberalismus gewichen ist, die verantwortungslos privatisiert und gute soziale Strukuren für die kleinen Leute demoliert. Geld führt eben auch nicht mehr zum Wohlstand für alle und sparen führt seit Hartz4 zur Enteignung.

Spätestens seit 1984 gab es immer wieder individuelle (nie institutionelle) Ansätze, die Umbrüche und die sozialen Verwerfungen fotografisch festzuhalten, aber nie staatlich gefördert sondern immer nur persönlich engagiert.

Fotografisch aufgearbeitet wurde dies im Arbeitsfeld der damaligen Schlüsselindustrien Stahlindustrie und Metallverarbeitung, die die USA und Europa dominierten (ähnliche Fotos aus der DDR und UdSSR sind sicher vorhanden aber mir so nicht bekannt. Dort vollzogen sich ähnliche Prozesse).

Und heute – nach 2016?

Heute sind die Veränderungen sichtbar und dominierend, die nichts verbessert haben.

Und in den USA bewegt sich dadurch politisch nun das Land: „Im sogenannten Rostgürtel, der ältesten, größten Industrieregion Amerikas, die sich entlang der Großen Seen von Wisconsin über Michigan, Illinois, Indiana und Ohio nach Pennsylvania erstreckt, hat die Mehrheit (außer in Illinois) den Republikaner Trump gewählt. 2012 hat Barack Obama (genau wie 1992 und 1996 Bill Clinton) fünf dieser sechs Staaten für die Demokraten erobert, 2008 sogar alle sechs.“

Aber wohin?

Und in England ist es auch Teil der sozialen Lage geworden.

Wenn man so wie ich hier nun diese Informationen zusammengetragen hat, dann sieht man, wie viel oder wenig visuell dokumentiert wurde, um soziale Abläufe festzuhalten und auf Probleme hinzuweisen.

Früher war es mehr und spielte auch in der öffentlichen Debatte eine stärkere Rolle.

Wo ist das heute bei dem, was uns in Deutschland sozial bewegt?

Oder ist die Frage falsch?

Bewegt uns noch sozial etwas in Deutschland?

Überdeckt die Flüchtlingsschwemme alles, um das, was wichtig ist für eine soziale Demokratie, unter den Teppich zu kehren?

Mehr als 8 Millionen Menschen dauerhaft in Hartz 4 und viele knapp darüber in einem der reichsten Länder der Welt.

Ist das der politischen Klasse egal, weil Hartz4 Dauerkontrolle von noch mehr Millionen ermöglicht?

So stabilisiert Hartz4 die wachsende Ungerechtigkeit, weil das Volk mehr kontrolliert wird als in der DDR.

Zu wenig gute Arbeit aber dafür unglaublicher Reichtum.

Das zerstört das soziomoralische Grundgesetz und hilft weder der Mittelschicht noch den Armen.

Wo sind die Fotos dazu?

Es wären heute Fotos von Armut in einem reichen Land jenseits der alten Industriestrukturen. Es wären Dokumente des lebenden Schmerzes von Staatsbürgern.

So wenig Fotos und so viel soziales Leid!

So sind wir aktuell am Ende der fotografischen Existenz der unteren Schichten angelangt. Was nicht in den Medien ist, ist nicht politisch relevant. Was nicht sichtbar ist, kann nicht gesehen werden.

Dies bedeutet, es gäbe viel zu fotografieren mit neuem Denken auf alte und neue Art und Weise.

Ich bin gespannt wer, wann, wo und wie dies geschehen wird.

Und ob!

Nachtrag: Hier noch ein Link zu einem Artikel, der ca. einen Monat später erschien,

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

3 thoughts on “Das Ende der fotografischen Existenz der unteren Schichten?

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