Durch den Osten – was war, was ist, was bleibt? von Kai Stefes

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„Ich habe zwei Systeme durch eigenes Erleben kennengelernt und den Wandel von dem einen in das andere. Der normale Westdeutsche hat dies nicht und wird diese Erfahrung auch nicht nachholen können.“

So endet das Buch mit einer Aussage eines von Kai Stefes befragten Deutschen in der ehemaligen DDR. Es ist ein wunderbares Buch. Ein Westdeutscher begibt sich als Gesamtdeutscher mit einem ehemaligen DDR-Motorrad – der MZ – auf eine Reise durch die östlichen Bundesländer.

Das Buch ist mit viel Liebe gemacht und authentisch. Es wechseln sich Reisebeschreibungen mit kleinen Farbfotos und Schwarzweiss-Fotos aus einer analogen Pentacon ab. Einige der Menschen, die Kai Stefes auf der Reise getroffen hat, wurden von ihm befragt und die Antworten zeigen die Vielfalt, die bis heute herrscht.

Das Buch ist eine Lust für die Augen und eine Leselust. Der Autor und Fotograf geht sehr direkt auf die Motive und Menschen zu und dies macht aus dem Buch auch ein direktes Erlebnis für Auge und Geist.

Wir sehen die Schönheit der Landschaften, Aufbau und Zerfall, lesen über viele Entdeckungen und treffen Menschen. Kritik an der DDR kommt nicht zu kurz aber Kai Stefes fängt mit seiner Offenheit auch die neuen Wahrnehmungen ein.

Wenn ich seine Fotos sehe, dann hat der Osten Deutschlands sehr viele schöne Landschaften, die im Westen nicht zu finden sind.

Aber wenn ich sein Buch gedanklich rumdrehe und an den Westen denke, dann finde ich hier und heute mindestens ebenso viele kaputte, unrenovierte, heruntergekommene Örtlichkeiten. Und Plattenbauten heißen hier nur anders und sind bis heute in jeder Form und Farbe dort zu finden, wo viele Menschen in der Industrie beschäftigt waren – wie in der DDR.

Es ist dadurch auch ein Buch, das eigentlich zeigt, wie weit der Lack im Westen schon ab ist. Und das hat wenig mit der Wende zu tun.

Wenn ich es etwas bissig ausdrücken würde, würde ich einen Satz aufgreifen, den ein Mann aus Bautzen über die DDR in dem Buch geäußert hat: „Es gab immer genug zu essen, es muste niemand hungern, aber das war es im Großen und Ganzen.“

Dabei denke ich heute an Hartz 4 und würde zum Tag der Deutschen Einheit aus gesamtdeutscher Sicht sagen, wie recht der Mann damit hat.

Kai Stefes hat ein Buch gemacht, das aktuell ist und viele Antworten enthält auf das, was hier parallel läuft und teilweise nicht gesehen wird.

Wer mit einem westdeutschen Blick in den Osten reist, der hat nicht verstanden, daß es den Westen nicht mehr gibt und das neue Deutschland im Westen und im Osten sich verändert hat.

Ostdeutsche vergleichen das heutige System eher mit der Stasi-Überwachung und finden dann, heute sei es schlimmer und sie vergleichen ihre damalige echte soziale Sicherheit und die Gleichbehandlung von Mann und Frau mit der heute gelebten Scheinheiligkeit. Sie wissen mehr und haben mehr erlebt.

Deshalb ist dieses Buch und die Reise von Kai Stefes nicht nur eine Reise in die ehemalige DDR sondern ein wunderbarer Spiegel für die massenhaften Defizite der neuen BRD bzw. des neuen Deutschland.

Darüber könnte man zum Tag der Deutschen Einheit einmal nachdenken. Dieses Buch eignet sich wirklich sehr dazu.

Gut gemacht und gut fotografiert.

Das Buch ist im Westkreuz-Verlag erschienen.

Durch den Osten von Kai Stefes

ISBN: 978-3-944836-26-3

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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