Erich Grisar – Ruhrgebietsfotografien 1928-1933

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Es ist vielleicht eines der gehaltvollsten Fotobücher zur Dokumentarfotografie in Deutschland überhaupt. Der Dortmunder Schriftsteller und Fotograf Erich Grisar war fast vergessen und nun sieht man im Rückblick, daß es ohne ihn keine Blicke auf die soziale Vergangenheit des Ruhrgebietes in dieser Form geben würde. Was für ein Lob für einen leider Toten, der seine Lebenszeit bewußt und klar aufgezeichnet hat mit Kamera und Schreibmaschine! Und wie gut, daß seine Fotos aufbewahrt wurden!

Bemerkenswerterweise habe ich ihn in dem großen Buch über Arbeiterfotografie nicht gefunden. Daran sieht man wie wichtig es ist, die Geschichte nicht einfach zu vergessen sondern heute auf gestern zu blicken, um im Rückblick überhaupt einordnen zu können.

Ludger Claßen wird als Initiator dieses Projektes über Erich Grisar genannt. Offenbar ist es gelungen, denn aktuell haben sich wirklich viele Institutionen bemüht, seinen Fotos und Texten eine Würdigung zu geben.

Erich Grisar fotografierte das, was er sah und wo er war und wo er dabei war.

Bei vielen Fotos meint man mitten drin zu sein, wenn man Fotos von heute daneben legen würde in Schwarzweiß ….

Andreas Rossmann hat auf faz.net zur aktuellen Ausstellung und zur Biografie Informationen mit Beispielfotos publiziert. Dabei wird deutlich, daß Grisar vom Schreiben zum Fotografieren kam mit dem Gespür für die soziale Wirklichkeit, die ihn umgab und die viele gar nicht sahen oder für nicht wesentlich hielten und daher eben eher nicht fotografierten. Grisar hielt den Zeitgeist der kleinen Leute fest, ihr soziales Milieu, die Bedingungen ihres Lebens und ihres Alltags.

Wie bei Zille – nur nicht gemalt, könnte man denken.

Rossmann schreibt auf faznet: “ So lässt sich ein Autor umfassend kennenlernen, der erst jetzt als Fotograf entdeckt wird. Indem er die Lebenswirklichkeit auch an ihren (vermeintlichen) Rändern ausleuchtet, bereichert und vertieft er das Bild des Ruhrgebiets. Es gewinnt schärfere Konturen.“

Diese Äußerung führt dort in einem freigeschalteten Kommentar von Manfred Brand zu deutlicher Kritik: „an ihren (vermeintlichen) Rändern ausgeleuchtet,….., die Klammern sind gut gesetzt, es waren (und sind) nicht die ‚vermeintlichen) Ränder, es war (und ist) die eigentliche Mitte der Gesellschaft. Der Teil, der Gesellschaft, der den Wohlstand erarbeitet – aber nicht Teil daran hat. Sicher war die Armut der Arbeitenden in den späten 20er und frühen 30er Jahren einfach entsetzlich und unsere heutigen „Armen“ leben ungleich besser. Das Prinzip aber ihr (die Arbeitenden 97%) arbeitet und (über-)lebt davon, und wir (die oberen 3%) leben gut davon.“

Und so wird an diesem Beispiel schon deutlich, wie unterschiedlich bis heute die Wahrnehmung solcher Fotos ist. Dokumentiert sich hier bis heute „Klassenbewußtsein“?

Aktuell ist dies alles in jedem Fall, zumal viele Fotos fast an heute erinnern, weil die Armut in Deutschland wieder eingeführt wurde und das Tagelöhnertum.

Und auch heute gibt es sie wieder mitten im Ruhrgebiet, die Orte mit den Armen, deren Zahl zunimmt.

Die Ruhrgebietsfotografien von Erich Grisar erinnern mich bei den Porträts an August Sander und bei der Bildgestaltung an die klassische Reportagefotografie wie sie Henri Cartier-Bresson pflegte. Visuelle Grammatik und visuelle Gestaltung wo man auch hinblickt.

Das Buch mit den Ruhrgebietsfotografien von Erich Grisar ist ein wunderbares Vorzeigebuch (zum kleinen Preis) geworden, das Aufnahmen fast im DIN A4 Format zeigt und mit Fadenheftung für Langlebigkeit sorgt. Hinzu kommen substanzielle Aufsätze von Andrea Zupancic.

Ich würde Erich Grisar als legitimen Nachfolger einer Fotografietradition sehen, die Heinrich Zille markiert.

Vom Zille Milljöh zum Grisar Milieu!

Es ist Arbeiterfotografie. Nur durch die bei uns (noch) vorherrschende soziale Aufgabe von Museen und dem privaten Einsatz engagierter Menschen ist es gelungen, dies alles nun so öffentlich sichtbar und anschbaubar zu machen und das Buch als Dokumentation einer Ausstellung zu publizieren.

Das ist zugleich visuelle Geschichtsschreibung und der gelungene Versuch, Sozialgeschichte zu schreiben.

Erich Grisar gelingt es mit seinen Fotos, den Zeitgeist des Alltags sichtbar zu machen. Er lebt vor unseren Augen wieder auf. Hat sich viel geändert? Und so geben seine Fotos viel Raum, um über Geschichte, Zeitgeist, Macht und Herrschaft und die Grenzen des Wissens nachzudenken.

Das Buch ist im Klartext-Verlag erschienen und eine Meisterleistung aller Beteiligten.

Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Stefan Mühlhofer (Hrsg.), Stefanie Grebe (Hrsg.), Andrea Zupancic (Hrsg.)
Erich Grisar
Ruhrgebietsfotografien 1928–1933
lieferbar, erschienen am 11.03.2016
224 Seiten, zahlr. Abb., Hardcover, 19,95 €
ISBN: 978-3-8375-1404-9

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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