Zwischen Anti-Fotografie und Radical Art

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Ich bin etwas hin- und hergerissen, weil es so viele Begriffe gibt. Aber ich will es versuchen.

Vor fünf Jahren schrieb ich über Anti-Landschaften und die neue Naturfotografie. Neu war dabei vor allem, daß nicht nur die schönen Seiten aufgenommen wurden sondern die neue Wirklichkeit, also die unbeachteten und ausgeblendeten Teile unserer Wirklichkeit im Raum. Aber es ging seitdem ja weiter.

Die bekanntesten Namen heute sind sicherlich Edward Burtynsky, Sebastiao Salgado und Nick Brandt.

Hinzu kommen viele andere, die ich nicht kenne und einige, die ich kenne wie John Ganis oder Camilo José Vergara.

Bei ihnen sieht man die Ergebnisse menschlichen Handelns.

Die Menschen selbst mit ihrem Handeln sieht man eher auf anderen Fotografien.

Jenseits der Nachrichten ist sicherlich Martin Parr mit seiner Art die Dinge zu sehen der bekannteste Fotograf, der die Menschen in der Konkretheit des Konsums und des Sozialen bis in die gelebte Absurdität zeigt.

Aber er steht hier stellvertretend für viele andere Namen, von denen einige auf diesem Blog schon genannt wurden.

Es sind thematische Blicke, die zugleich auch Botschaften sind, auch kritische Botschaften.

Und sie haben auch eine Funktion in der neuen visuellen Kommunikation, wobei die Erzeuger der Fotos dies vielleicht nicht immer so sehen. Das weiß ich aber nicht.

Unter dem Gesichtspunkt der Zuordnung in soziale Zusammenhänge sind es oft Fotos, die sich zwischen dem Anti-Fotojournalismus und dem alternativen Gebrauch der Dokumentarfotografie bewegen.

Sie versuchen eben auch die vorhandenen Bilderwelten unseres Kommunikations- und Denksystems zu relativieren. Sie sind konkret im kommunikativen Zusammenhang.

Das geht umgekehrt bis zur radikalen Kunst, radical art, die heute Lebensverarbeitung durch (z.B. visuelle) Einmischung in extremen Zusammenhängen ist.

Was kann man darunter verstehen?

Andrew Wilson hat dies in einem Essay zum Thema “Radical Art Practices in London in the Seventies” so ausgedrückt:

“Viele Künstler identifizierten sich in diesem Zeitraum aktiv mit dem Klassenkampf und den Arbeiterrechten. Hierin spiegelt sich der Übergang von einer Kunst, welche den Zustand der Kunst hinterfragte, zu einer Kunst, welche die Rolle der Kunst innerhalb einer Gesellschaft infrage stellte und schließlich zur Inkraftsetzung einer Kunst führen sollte, die für eine solche Identifikation stehen sollte und mit ihr arbeiten sollte.”

Es ging darum, fotografische Bilder auf eine Weise zu präsentieren, welche die Strukturen der orthodoxen Kultur entlarven und in Frage stellen sollte, um so auch ihre Kodierungen und ideologische Basis zu demontieren.”

Damit ist der Rahmen für radical art bzw. radikale Kunstpraxis klar, so wie sie in den 70er Jahren verstanden wurde.

Man wollte die Menschen dazu bringen, durch Hinterfragen zu fragen und durch kritisches Denken zum Mitmachen und zu sozialen Veränderungen zu kommen mit dem Ziel, bessere soziale Verhältnisse zu bekommen.

Aber Aufklärung allein reicht nicht, ist aber unerläßliche Voraussetzung für Veränderungen.

Und Aufklärung mit Hilfe von konkreten Fotos ist wichtig in anonymen Zeiten.

Denn Geld führt, egal in welcher Religion und in welcher Region.

Neue Blicke und neue Bilder in aktuellen Zusammenhängen sind entscheidend.

Dies kann sehr unterschiedlich sein

  • mit Themen wie Öl oder Wasser (Edward Burtynsky, Allen Sekula),
  • mit einer Region oder einen Kontinent imWandel (Nick Brandt),
  • mit dem Blick auf die Welt (Sebastiao Salgado)

Es können aber auch andere Themen sein, die die Konkretheit des menschlichen Lebens und des Sozialen und Asozialen heute dokumentieren so wie hier oder hier.

Und es muß nicht nur das Große sein, es kann auch das Kleine gezeigt werden so wie auf diesem Foto:

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Entscheidend ist das Einbringen und das Zeigen.

Aber es wird nicht reichen, Fotos ohne Lösung anzubieten sondern diese müssen lösungsorientiert in die soziale Kommunikation eingebracht werden (genau das versucht gerade dieser Artikel).

Anti-Blicke sind dabei die Voraussetzung für neue Blicke.

Dazu kann die Fotografie beitragen.

Also los!

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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