Jacob Holdt – The American Underclass?

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„Ohne Geld reiste Jacob Holdt fünf Jahre durch die USA. Unterwegs schoss der Däne 15000 Fotos. Seine Bilder schockierten 1977 die Welt, denn so abgründig hatte das Land noch niemand gezeigt.“

So schrieb es Susanne Kippenberger 2008.

Wissen Sie noch was davon – wußten Sie es überhaupt?

In der deutschsprachigen Literatur zur Dokumentarfotografie habe ich ihn nicht gefunden. Auch in den Doktorarbeiten/Promotionen war er nicht auffindbar.

 

Robert Frank

Da kommt eher und eigentlich als Prototyp für das Bild von Amerika Robert Frank vor, der auch sehr engagiert war. Sein Buch verkaufte sich zunächst knapp 1100 mal und er erhielt dafür weder soziale noch materielle Anerkennung. Erst 1978 wurde er „wiederentdeckt“ und seitdem sind seine Bilder DIE Bilder Nordamerikas in den 50er Jahren. So wurde er prominent.

Ob das was mit dem Thema Museumsqualität zu tun hat, würde der kleine Teufel in mir fragen? Denn seine Fotos als Teil sozialer Dokumentation waren auch vor 1978 gut.

Doch schauen wir mal gedanklich weiter.

 

Jacob Holdt

Jacob Holdt fotografierte in den 70er Jahren. Dann veröffentlichte er seine Fotos, die eine Art Bestandsaufnahme seines Erlebens in Amerika waren und das Buch wurde millionenfach verkauft.

Das war 1977.

Ob das heute noch so möglich wäre?

American Pictures, links DDR, Mitte BRD, Rechts Neues Deutschland 2007 - Jacob Holdt
American Pictures, links DDR-Buch, Mitte BRD-Buch, Rechts Neues Deutschland Buch 2007 – Jacob Holdt

 

Mediale Präsenz der Fotografie sozialer Fragen

Fakt ist, daß Jacob Holdt bisher in den Medien dauerhaft kaum vorkommt, wenn es um Dokumentarfotografie geht und in der Geschichte der Fotografie über soziale Fotografie ebenfalls nicht.

Wenn es um den Charakter der USA geht, dann ist meistens von Robert Frank die Rede obwohl die Fotos von Holdt andere Seiten und andere Zeiten desselben Amerikas zeigen.

Ich sehe drei fotografische Blöcke

  • die Fotografie der 30er Jahre mit Dorothea Lange etc.,
  • die Fotografie der 50er Jahre mit Robert Frank und
  • die Fotografie der 70er Jahre mit Jacob Holdt,

wenn es um soziale Fragen und die öffentliche Sichtbarkeit geht. Für die 1990er Jahre in den USA habe ich noch keinen Namen.

Philip Gefter, ein amerikanischer Feuilletonist, sieht dies völlig anders. Er spricht von

  • Robert Frank, The Americans
  • Garry Winogrand, Narrative of America
  • Stephen Shore, Uncommon Places
  • Joel Sternberg, American Prospects

wobei dies für ihn das Genre „societal view“, also ein gesellschaftlicher Blick, ist. Holdt fehlt hier.

 

Wahrnehmung und Interesse

Wie unterschiedlich Jacob Holdt wahrgenommen und eingeordnet wird und auch seine Fotografie sozial gesehen wird, zeigen sehr gut die Artikel in der englischen und deutschen Wikipedia. Da lohnt sich das Lesen der insgesamt total verschiedenen Artikel.

Für mich sind seine Fotos auch deshalb so stark, weil sie sein eigenes Erleben zeigen. Es ist seine Geschichte, die den Faden bildet und es sind immer authentische Fotos mit Menschen wie du und ich, wenn sie keine Chance habe oder in einer Umwelt leben, die so ist wie dort. Und bis heute ist dies alles aktuell wie wir aus den Medien immer wieder mal erfahren.

So möchte ich den in deutschen Landen fast Vergessenen zumindest noch einmal in das mediale Licht stellen, damit man die Möglichkeit hat, sich damit zu beschäftigen.

Denn wenn man bei google Dokumentarfotografie eingibt, kommt Holdt in Verbindung mit Dokumentarfotografie auf den vorderen Seiten nicht vor – wenn überhaupt.

 

Starke Fotos mit einfachen Kameras

Abgesehen davon hat er starke Fotos mit einer einfachen Kamera gemacht. Dies tat später auch Richard Billingham. Der perfekte Moment ist der authentische Moment bei dieser Art der Fotografie. Das beste Bild braucht dabei nicht die technisch beste Kamera. Und es waren in diesen Fällen keine ausgebildeten Fotografen, die starke Fotos machten. Das spricht für die benutzten einfachen Kameras und das Gespür der Fotografierenden.

 

Buch kostenlos online

Seit einiger Zeit ist das komplette Buch von Jacob Holdt auch online lesbar und ein Teil als kostenloser Download verfügbar.

Sie finden das Buch online unter www.american-pictures.com.

Es lohnt sich sehr darauf hinzuweisen, weil dies echte sozialdokumentarische Fotografie ist. Er selbst sieht sich in der Tradition von Jacob Riis.

 

Jupiter im Skorpion

Übrigens ist er einer der wenigen, die ihr Horoskop öffentlich nutzen, um ihr Schicksal zu verstehen. Laut seiner Horoskopzeichnung ist Jupiter im Skorpion. Er sucht also das Tiefgründige und findet dort  sein Glück, würde vielleicht ein Astrologe als Erklärung denken. So könnte man es rückblickend verstehen, wenn man sich fragt, wie sein Weg war und warum diese Fotosammlung entstand.

 

Soziale Folgen von Armut – Die USA als Spiegel für Deutschland

Davon abgesehen hat Jacob Holdt in den USA das aufgenommen, was neuerdings auch in Deutschland zu sehen ist. Nur hat Armut hier nicht die Farbe schwarz. Aber so sieht es vielfach schon bei uns aus, wenn man es sehen will. Wenn man will.

Die riesig gewordene Kluft zwischen reich und arm – dank SPD und FDP sowie Teilen der CDU und der Grünen als Antreiber des Neoliberalismus – hat auch in Deutschland für solche Zustände gesorgt. Das Gesundheitswesen wird gerade halb privatisiert aber die Hartz 4 Reform hat aus einem sozialen Land schon vorher eine asoziale Landschaft gemacht.

Es ist eine soziale Unterschicht entstanden und die Chance, daß die Menschen sich durch Arbeit daraus befreien können, wurde durch Befristungen und niedrige Mindestlöhne faktisch abgeschafft. Selbst Fleiß führt nicht mehr da raus. Im Gegensatz zu den USA ist Deutschland geografisch aber zu klein, um eine Distanz in der Fläche zwischen Armenhäusern und reichen Gegenden zu schaffen. Das wird oft übersehen und wird neue Probleme erzeugen.

 

Armut ohne Fotografie

Da wir in Deutschland andere Gesetze und Verhältnisse haben, sind Fotos wie die von Jacob Holdt eher nicht mehr möglich.

Die Wirklichkeit bekommt an dieser Stelle aktuell also kein Gesicht, denn “je näher Armut dem westlich-weiß dominierten Kulturkreis rückt, desto unsichtbarer wird sie.”

So sind die Fotos von Jacob Holdt auch ein Spiegel der Entwicklungen, die in Deutschland und Teilen Europas gerade anlaufen.

 

Das Grundgesetz zeigt die Richtung

Rückkehr zum Sozialstaat wäre Fortschritt, wenn man sich verlaufen hat.

Aber wer gibt das zu?

Solange Tafeln und Fürsorge als gut empfunden werden, hat meine hier geäußerte Ansicht keine Chance. Dabei sieht unser Grundgesetz ausdrücklich etwas anderes vor: ein Existenzminimum ohne Fürsorge für eine soziale  Basis auf Augenhöhe als Voraussetzung für demokratische Teilnahme und unveräußerliche Menschenrechte. Das waren die Lehren über den menschlichen Charakter nach zwei Weltkriegen, die in das Grundgesetz geflossen sind.

 

Sozialdokumentarische Fotografie bedeutet Engagement

Dennoch freue ich mich, daß ich diesen Artikel schreiben konnte, weil er mir die Möglichkeit bietet, auf Jacob Holdt aufmerksam zu machen, der uns mit Bildern aus Amerika zeigt, was sich hier gerade entwickelt.

Wenn man solche Fotos zeigt und nach den sozialen Bedingungen fragt – das ist das Ziel engagierter sozialdokumentarische Fotografie – dann ist die Antwort klar: es muß sich was ändern.

Dies kann dieser Artikel nicht leisten, aber wenn Sie ihn bis hierhin gelesen haben, dann dürfte klar sein, daß es nicht so bleibt, wenn es so bleibt wie es ist – auch hier nicht.

Zum Abschluß noch etwas zur Definition.

Das Buch wurde oft mit dem Begriff Underclass – Unterklasse in Verbindung gebracht.

Darauf wird in der Ausgabe von 2007 hingewiesen.

Underclass ist wie Untermenschen. Es ist eine Erfindung irgendwelcher „Herrenmenschen“, die sich dadurch abzugrenzen versuchen und begrifflich besser sein wollen.

Poor people – materiell arme Leute bzw. arme Menschen wäre die einzig richtige und nicht direkt diskriminierende Bezeichnung.

Es kommt eben auch bei Fotos auf die Worte an mit denen man sie beschreibt. Sie formen die Blicke im Kopf.

 

Nachtrag am 23.10.2015:

Man kommt aus dem Staunen nicht raus. Heute meldete mir mein Linküberwacher, daß die American Pictures online verschwunden sind. Nachgeschaut, gesucht und dabei stellte sich raus, daß man Jacob Holdt und seine Geschichten hinterfragt. Da scheint es Probleme zu geben, so daß er heftig in der Kritik steht. Ich habe diesen Artikel ins Deutsche übersetzen lassen und hoffe, er klärt etwas auf. Nach der Übersetzung hat er die Wahrheit „ausgeschmückt.“

Text 1.5

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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