Das Bild als Zeuge – Kunst als Verlust der Realität

Karen Fromm

“Dokumentarische Bilder zielen eher auf Wahrheit und die sachliche Vermittlung von Informationen in detailreicher Klarheit und Nüchternheit. Bei authentischen Bildern geht es weniger um die Sachlichkeit als um die Vermittlung von Echtheit, Unmittelbarkeit und häufig auch Emotionalität.“ Dieser Satz aus der Doktorarbeit von Karen Fromm, die begutachtet wurde von Prof. Dr. Susanne von Falkenhausen und Dr. Bettina Uppenkamp, führt uns hinein in die akademische Betrachtung des Dokumentarischen.

(Ich habe hier mal die akademischen Titel aufgeführt, aber mir erschließt sich nicht, wieso akademische Abschlüsse in den Personalausweis eingetragen werden und Teil des Namens werden können. Das gibt es so nur in Deutschland. Logischerweise müßte dann das Thema der Doktorarbeit mit eingetragen werden weil nur dort die Qualifikation nachgewiesen ist. Aber das ist eine andere Frage.)

Dissertationen setzen dort an, wo der aktuelle Stand der Forschung ist und fügen einen bisher unerforschten Teil hinzu. Das ist dann das Erforschte.

Mit gefällt ihre Doktorarbeit, weil ich den Eindruck habe, daß sie das Thema interessiert hat.

Zudem ist sie praxisorientiert.

Der Untertitel lautet „Inszenierungen des Dokumentarischen in der künstlerischen Fotografie seit 1980“.

Damit kommen wir wieder dort an, wo man heute versucht, mit Fotografie Geld zu verdienen.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit fragte früher Paul Watzlawick.

Und Karen Fromm fragt, was denn das Dokumentarische ist?

Eine gute Frage.

Sie wandert dann durch die Theorien, die man wahrscheinlich als Nachweis der akademischen Beschäftigung mit diesem Thema erbringen muß und kommt zu dem Thema „Das spezifische Verhältnis des Dokumentarischen zur Wirklichkeit“.

Dokumentarisch, wirklich, real, wahr – wo ist die Schnittmenge und wer definiert dies wie?

Mir gefällt folgende Aussage von ihr:

„Die Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit, die der Produktion und Konsumption des Dokumentarischen zugrunde liegen, sind damit keineswegs als neutral und überzeitlich, sondern als Teil gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu lesen, die diese verhandeln und definieren. Wie jede Form der Wissensproduktion ist auch die Herstellung dokumentarischer Wahrheits- und Wirklichkeitseffekte an Machtverhältnisse, sogenannte Wahrheitsregimes gekoppelt. Dokumentarische Praktiken lassen sich damit weniger als Wahrheit denn als Politik der Wahrheit begreifen, die Foucault als ein Set von Regeln versteht, die Wahrheit verhandeln und definieren.“

Und dann wandern wir mit ihr durch die Gedanken, Fotografien und Grafiken vieler Namen, die immer wieder auftauchen in der Galerie der Fotokunst.

Es ist ein „Buch“, das die Gelegenheit bietet, alles das zu lesen, was in der akademischen deutschen fotografischen Welt aktuell wichtig ist.

Frau Fromm schließt mit den Worten: „Denn genau wie das Dokumentarische nicht als Ergebnis, sondern als Handlung zu begreifen ist, die immer mit zahlreichen Machtformationen verknüpft ist, stellen die künstlerischen Bilder einen Bezug zu den Ereignissen her, auf die sie rekurrieren. Sie fungieren jedoch nicht als Belege, dass die Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, sondern reflektieren, dass die Lesbarkeit von Welt, die Abbildbarkeit der Ereignisse nie vollständig gelingen kann. Insofern baut das künstlerische Vorgehen auf eine Differenz zum Ereignis und ist damit letztlich auf Verlust angelegt.“

Der Text ist online kostenlos verfügbar als Teil der öffentlichen Wissenschaft und daher mit einem Mausklick ladbar und lesbar.

Man findet viele Aspekte aktueller deutscher universitärer Fototheorie wieder.

Ach so, was ist denn jetzt in ihren Augen Dokumentarfotografie?

„Zum einen muss zwischen Dokumentarfotografie und Dokument unterschieden werden. Denn Solomon-Godeaus Zitat zeigt, dass jede Fotografie im Sinne ihrer Indexikalität ein Dokument dessen ist, was sich vor der Kamera befunden hat; sie ist damit aber noch nicht notwendig eine Dokumentarfotografie. … Die vorfotografische Realität würde ich auf die Beschreibung dessen, was sich während des Fotografierens vor der Kamera befunden hat, beschränken. Mithilfe dieser Differenzierung wird nämlich eine mögliche Unterscheidung zwischen inszenierter, auf Fiktives rekurrierender Fotografie und dokumentarischer Fotografie deutlich. Im Fall der inszenierten Fotografie spielt die nicht-fotografische Realität lediglich als intendierte Rezeptionsrealität eine Rolle und die reale vorfotografische Realität löst sich in der Fotografie gleichsam auf, während sie im Fall der Dokumentarfotografie in die nichtfotografische Realität zurückgeht, die sie ja selbst einmal war und aus der sie entstanden ist. Ein wesentliches Charakteristikum dokumentarischer Fotografie ist damit ihr Referenzobjekt, das sie im Gegensatz zur inszenierten Fotografie in der nichtfotografischen Realität findet.“

Es kommt also darauf an, ob ich eine gestellte oder ungestellte Szene aufnehme.

Wenn man den Text gelesen hat und dann zur Kamera greift und dabei darüber nachdenkt, wie dokumentarisch die Wirklichkeit ist, dann wird man merken, daß ihr Ansatz, dabei Macht und Interesse nicht zu vergessen, aus der Praxis stammt – wenn auch mit wissenschaftlicher Akribie formuliert.

Die Fotografie ist eben eine Waffe – sogar in der Kunst.

In dem Text sind auch Abschnitte wie der über Richard Billingham´s Ray´s a Laugh, die auf mich völlig überakademisiert wirken und jenseits von meiner Auffassung sind.

Aber so ist das eben mit der Fotografie und dem Dokumentarischen und der Wissenschaft, die Wissen schafft.

Damit wären wir bei der Frage, wo die Schnittmenge von Wissen und Wirklichkeit ist.

Aber das ist ein anderes Thema.

Und nun viel Spaß beim Lesen des Textes.

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/