Die Wahrheit über die Dokumentarfotografie

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Es sind die Hormone schuld – und die Blicke.

„Schauen Sie besonders lange auf das Foto, wenn die abgebildete Person Sie direkt anschaut?“

Mit dieser Frage lüftet Marco Rauland in seinem Buch Warum verliebte Köche die Suppe versalzen das Geheimnis erfolgreicher Fotografie.

Rauland weiter:

„Das ist ganz normal, denn unser Gehirn gerät von ganz allein in Verzückung, wenn wir in ein attraktives Gesicht erblicken… Allerdings lösten nur diejenigen Gesichter ein molekulares Freudenfeuer unter der Schädeldecke aus, auf denen ein als schön eingestuftes Gesicht auch in Richtung des Betrachters blickte… Wenn Sie demnächst eine Zeitschrift durchblättern, dann ist Ihnen jetzt klar, warum die Models der Werbeanzeigen Sie – den Betrachter – in aller Regel direkt anschauen.“

Und das ist auch die Antwort darauf, warum gute Dokumentarfotografie oft eher schlecht ankommt.

Das ist übrigens keine Theorie und gilt nicht nur für Dokumentarfotografie.

Aber schauen Sie doch einmal selbst.

  1. Irina Popova hat ein Ehepaar mit Kind in Petersburg portraitiert. Schauen Sie Ihnen doch einfach mal in die Augen.
  2. Bei 1214.wupperart habe ich die Werbung an Bushaltestellen festgehalten. Fangen Sie die Blicke ein, es ist ganz einfach.
  3. Und als Fussball-WM war, konnte man dieses Bild an der Bushaltestelle einer Grundschule sehen.

Dokumentarfotografie zeigt Wirklichkeit.

Die ist nicht so makellos wie die Werbung, sondern zeigt

  • Unschönes,
  • Unperfektes,
  • Problematisches,
  • Verdrängtes,
  • Ungelöstes.

Dabei wird man vielfach schon beim Betrachten auf sich selbst zurückgestossen und wenn man sich selbst erkennt und nicht mag …

Erfolgreich ist anders.

Salgado hat den Hunger in visuell „schönere“ Formen gepackt.  Das wurde oft kritisiert ist aber ein Grund für seinen kommerziellen Erfolg. Und wenn er es nicht getan hätte, würde sich seine Fotos kaum einer anschauen. Und wie soll man auf das Elend aufmerksam machen, wenn die Fotos nicht angeschaut werden? Sein Weg ist wohl klüger als die Worte seiner Kritiker, zumal er Reales zeigt.

Neue Ansätze in der Dokumentarfotografie sind aber anders. Aktuell führt dies dazu, daß man entweder Themen dokumentarisch inszeniert, um die Attraktivität zu erhöhen oder mit Modellen arbeitet, die dem Geschmack der Zuschauer mehr entsprechen. Manche plädieren auch für eine nackte Wahrheit jenseits visueller Gesichtspunkte. Das ist aber eher etwas für die Tatortdokumentation und weniger für den Blick auf die Zusammenhänge.

Wer die Wirklichkeit so zeigt wie sie ist, hat wohl die schlechtesten Karten im Spiel um Erfolg und Geld.

Auch das zeigt die Wirklichkeit.

Text 1.1

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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