Fotografie als Instrument der Datenerhebung oder zwischen visuellem Wissen und visueller Soziologie

Foto: Michael Mahlke

Es hat sich was verändert. Aus analog wurde digital. Und die Menschen lernten auch neu zu sehen. Seit einiger Zeit gibt es neue Begriffe, die sich langsam etablieren. Dazu gehört der Bereich der visuellen Soziologie.

Was ist visuelles Wissen und was ist visuelle Soziologie und wie verändert dies die Wahrnehmung und das Dokumentieren?

Vom Text zum Bild

Ganz banal sieht man diese Veränderungen auf immer mehr Webseiten. Waren es früher Texte, dann Texte und Bilder – so sind es jetzt zunehmend Videos mit bewegten Bildern und Stimmen.

Und in diesem Prozess bekommt auch die Fotografie eine weitere Rolle, nämlich als Element der Datenerhebung. Fotografie als „Instrument der Datenerhebung“ ist quasi die Schnittstelle vom Eindruck zum Bild bzw. Bilderzeugnis.

Das visuelle Alphabet

„Die Fotografie ist das ideale Basismedium für visuelle Alphabetisierung.“ Dieser Gedanke von Edwin Stiller aus einem Aufsatz enthält einen neuen Weg zur Entdeckung der Welt.

Kann man die Wirkung von Bildern messen? Stefan Selke hat dieses Thema auf einer sehr schönen Webseite angesprochen, die weiterdenken läßt.

Bilder zwischen wirken und messen

Sybilla Tinapp hat darüber sogar promoviert „Visuelle Soziologie – Eine fotografische Ethnografie zu Veränderungen im kubanischen Alltagsleben“. Sie probiert August Sander auf kubanisch aus (unwissenschaftlich gesprochen) oder in ihren Worten:

„Ähnlich wie sich die „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz 1983) auf die Sprache verlässt, wird hier in einer Methodologie der ‚visuellen, fotografischen Verdichtung‘ auf das Sehen, die Beobachtung und das (verdichtende) Visualisieren von Beobachtungen gesetzt. Hierbei dient ein früherer Vertreter der sozialdokumentarischen Fotografie als Vorbild: August Sander (1929), der in seiner ’soziologischen‘ Dokumentation der deutschen Gesellschaft das analytische Typisierungspotential der Fotografie genutzt hat. Genau wie bei Sander ist auch in dem hier gewählten fotografischen Verfahren nicht der willkürliche Schnappschuss das Ziel, sondern in Absprache mit den Akteuren ein methodisch kontrolliertes Erfassen ihrer typischen Posen, ihrer Selbstdarstellungen in typischen Situationen und Milieus. Dieser Neuansatz einer visuellen Soziologie als ‚visueller fotografischer Verdichtung‘ wird in einer Fallstudie demonstriert und getestet: an den visuellen Typisierungen von alltäglich-lebensweltlichen Transformationsprozessen in Kuba. Am Ende dieser Fallstudie steht ein eigenständiges und rein visuelles Endprodukt der ethnografischen Untersuchung. Dieser Bildband besteht ausschließlich aus in Bildsequenzen angeordneten Fotografien. Auf jeglichen Textkommentar wurde bewusst verzichtet.“

Die Doktorarbeit ist übrigens unter dem obigen Link abrufbar.

Hintergründe und die Geschichte visueller Methoden gibt es besonders gut dargestellt in diesem Foliensatz.

Und u.a. an der Uni Köln hat man zur visuellen Soziologie ebenso wie an der Uni Erlangen und an der Uni Wien Seminare durchgeführt, wobei die Ergebnisse und viele andere hochinteressante Materialien von den Teilnehmern des Seminars an der Uni Wien interessierten Leserinnen und Lesern im Internet zur Verfügung gestellt worden sind.

Dies dort zu lesen lohnt sich wirklich.

Es tut sich also etwas und es hat sich etwas getan bei der „visuellen Neuvermessung“ der sozialen Welt.

Wenn sie den Verlinkungen dieses kleinen Artikels folgen, dann haben sie eine interessante Zeit vor sich, die ihnen tiefe und breite Einblicke in die visuelle Soziologie ermöglicht – und in die Fotografie.

Ich wünsche Ihnen dabei viel Spass!

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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